Enders Schatten
Schlüssel. Sie sind für gewöhnlich autistisch. Dysfunktional. Sie haben ungewöhnliche geistige Kräfte. Sie können rechnen wie der Blitz. Haben ein phänomenales Gedächtnis. Aber sie sind in anderen Bereichen unfähig, ja sogar zurückgeblieben. Sie können die Quadratwurzeln aus zwölfstelligen Zahlen innerhalb von Sekunden im Kopf berechnen, sind aber nicht in der Lage, in einen Laden zu gehen und etwas einzukaufen. Wie können sie gleichzeitig so brillant und so dumm sein?«
»Dieses Gen?«
»Nein, es war ein anderes, aber es zeigte mir, was möglich war. Das menschliche Hirn könnte viel klüger sein, als es ist. Aber es gibt da eine, wie sagt man ⦠eine Rückseite?«
»Eine Kehrseite?«
»Eine schreckliche Kehrseite. Um über einen hohen Intellekt zu verfügen, muss man etwas anderes aufgeben. So haben die Hirne autistischer Gelehrter ihre Fähigkeiten entwickelt. Sie können nur eins, und der Rest ist Ablenkung, ein Ãrgernis, auÃerhalb der Reichweite jeden vorstellbaren Interesses. Ihre Aufmerksamkeit ist vollkommen ungeteilt.«
»Also wären alle hyperintelligenten Leute in anderer Hinsicht zurückgeblieben?«
»Das nahmen wir alle an, denn so stellte es sich uns dar. Eine Ausnahme schienen nur die weniger Hyperintelligenten zu sein, die imstande waren, sich etwas Konzentration für gewöhnliche Dinge zu bewahren. Dann dachte ich ⦠aber ich kann Ihnen ja nicht sagen, was ich dachte, man hat mir einen Hemmer eingepflanzt.«
Er lächelte hilflos. Schwester Carlotta stöhnte innerlich. Wenn jemand ein erwiesenes Sicherheitsrisiko darstellte, implantierten sie ein Gerät in sein Hirn, das bei jeder Art von Unruhe eine Feedback-Schleife in Gang setzte, die zu einer Panikattacke führte. Dann setzte man solche Leute wiederholt einer Sensibilisierung aus, um dafür zu sorgen, dass sie ein groÃes Maà an Unruhe empfanden, wenn sie auch nur daran dachten, über das verbotene Thema zu sprechen. Das stellte zweifellos ein monströses Eindringen in das Leben einer Person dar, aber wenn man es mit den ansonsten üblichen Praktiken verglich, Menschen, denen man kein lebenswichtiges Geheimnis anvertrauen konnte, einfach ins Gefängnis zu stecken oder zu töten, war diese Methode beinahe menschlich.
Und das erklärte auch, wieso Anton von allem so amüsiert war. Ihm blieb nichts anderes übrig. Wenn er sich gestattete, zornig oder aufgeregt zu werden â tatsächlich genügte jegliche starke negative Emotion â , würde er eine Panikattacke erleiden, selbst wenn es gar nichts mit den verbotenen Themen zu tun hatte. Schwester Carlotta hatte einmal einen Artikel gelesen, in dem die Frau eines Mannes, dem man ein solches Gerät eingepflanzt hatte, versicherte, ihr gemeinsames Leben sei nie glücklicher gewesen, weil er nun alles so ruhig und humorvoll hinnähme. »Die Kinder lieben ihn jetzt, statt seine Anwesenheit zu Hause zu fürchten.« Sie sagte das, wenn man dem Artikel glauben durfte, nur Stunden, bevor der Mann sich von einer Klippe stürzte. Das Leben war offensichtlich für alle besser geworden, auÃer für ihn.
Und nun saà sie diesem Wissenschaftler gegenüber, dessen Erinnerungen unzugänglich gemacht worden waren.
»Was für eine Schande«, sagte Schwester Carlotta.
»Aber bleiben Sie doch noch ein wenig! Mein Leben hier ist einsam. Sie sind eine barmherzige Schwester, nicht wahr? Tun Sie einem einsamen alten Mann etwas Gutes und gehen Sie mit ihm spazieren.«
Sie wollte ablehnen, wollte sofort aufbrechen. Aber in diesem Moment lehnte er sich zurück und begann, tief und regelmäÃig zu atmen, mit geschlossenen Augen, als summe er ein kleines Lied vor sich hin.
Ein Beruhigungsritual ⦠Also hatte er in dem Augenblick, als er sie zum Spaziergang eingeladen hatte, eine Art Unruhe verspürt, die das Gerät in Gang gesetzt hatte. Das bedeutete, dass diese Einladung wichtig war.
»Selbstverständlich gehe ich mit Ihnen spazieren«, sagte sie. »Obwohl mein Orden technisch gesehen relativ wenig mit Barmherzigkeit gegenüber Einzelnen zu tun hat. Wir sind viel anmaÃender. Wir versuchen gleich, die ganze Welt zu retten.«
Er lachte leise. »Eine Person nach der anderen wäre zu langsam, oder?«
»Wir beschäftigen uns mit den gröÃeren Problemen der Menschheit. Der Erlöser ist bereits
Weitere Kostenlose Bücher