Endithors Tochter
lassen, dass er ihm zum Thron verhelfen konnte, wenn Nalor sich erkenntlich zeigen und ihm gestatten würde, seine besonderen Bedürfnisse zu befriedigen.
Plötzlich war ihm gar nicht mehr wohl, fühlte er sich fast machtlos. Ja, er hatte viele Verbrechen begangen – aber wie hätte er vorherzusehen vermocht, welche seiner Untaten ihm den Boden unter den Füßen wegziehen würde? Wie könnte überhaupt jemand, der ein Leben reich an Taten und Entscheidungen führte, im vorhinein wissen, welche seiner Taten oder Entscheidungen sich als Erfolg und welche als Reinfall erweisen würden? Nicht einmal Seher konnten das.
Verärgert schüttelte Nalor den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck Wein. Er konnte sich nicht selbst die Schuld geben – wohl aber anderen. Er kannte das alte Sprichwort: Ein Glücklicher nimmt alle Verantwortung auf sich; ein Unglücklicher weist alle Schuld von sich. Doch solche Gemeinplätze passten in seinem Fall nicht. Kus war schuld, Kus: Hexer, Ränkeschmied, Dämon, Ilorku. Wie lange wandelte dieser Unhold schon über die Erde, begab sich von Stadt zu Stadt; von Land zu Land? Gewiss seit Anbeginn der Zeit. Er kam mit seinen Verlockungen, seinen schönen Worten, er versprach Macht und Gold und Größe. Und hatte er sein Opfer erst an der Angel, entzog er ihm alle eigene Kraft, verdrängte er die Wirklichkeit zugunsten quälerischer Erinnerungen, und Träume wurden zu Alpträumen.
Kus!
So ergab sich eine neue Wendung in dem Spiel: Nalor gegen Kus …
Es gab noch ein anderes Sprichwort: Der Jäger, der zu viele Fallen stellt, vergisst leicht wo und fällt selbst hinein.
Aber der Jäger, dem das passiert, sagte sich Nalor, kennt im Gegensatz zum Tier die Art der Falle.
Morgendämmerung in Shadizar. Vögel flatterten von ihren Nestern unter den Tempeldächern hoch über der Stadt. Hölzerne Karren rumpelten über das Kopfsteinpflaster. Türen schwangen auf, Fensterläden wurden geöffnet, Lampen und Fackeln ausgelöscht. Betrunkene torkelten in dunkle Gassen, Dirnen zogen sich in die Häuser zurück, Kaufleute stellten ihre Ware aus, die Tagwache löste die Nachtwache ab. Tempelglocken riefen die Frommen zum Gebet. Die Stadtgongs schlugen zum Arbeitsbeginn der Bediensteten. Und an diesem Morgen ballten sich Gewitterwolken am Himmel, verdüsterten das ohnedies noch schwache Licht des neuen Morgens, und schon bald fielen Regentropfen auf Ziegelmauern und Kopfsteinpflaster, auf Glocken und Gongs und Fensterläden. Ein angenehmer, würziger Regen war es, der die Hitze milderte und ein wenig des Staubes und Schmutzes der Gassen fortwusch.
Sonja ging südwärts die Straße der Weinhändler entlang. Sie war zwar schon einmal hier gewesen, doch noch nie im Einhorn, das sich von den Weinhäusern und Schenken, die sie besucht hatte, noch ein Stück entfernt befinden musste. Tatsächlich lag es etwas abseits – ein eingefallenes Haus lag östlich davon und kaum genutzte Weiden dahinter, nahe der Südmauer von Shadizar.
Eine dünne alte Frau stand hinter der Theke, die sie gerade saubermachte. Sonjas Stiefel hallten auf dem Boden, als sie die Gaststube durchquerte und sich an einen Tisch setzte. Die alte Frau betrachtete sie misstrauisch, ehe sie schließlich hinter der Theke hervortrat.
»Wollt Ihr Frühstück?«
Sonja bestellte Rühreier und leichtes Bier. Die Alte schlurfte zur Küche.
Als Sonjas Augen sich dem Halbdunkel angepasst hatten, sah sie einen Mann an einem Tisch nahe der gegenüberliegenden Wand sitzen. Er war klein, gut gekleidet, sein Gesicht verkniffen und er betrachtete sie abschätzend. Sie beobachtete ihn.
Nach einer kurzen Weile rieb der Mann das linke Auge, als wolle er sich den Schlaf auswischen. Sonja erkannte diese Geste. Er war also einer, der sich seinen Unterhalt damit verdiente, Augen und Ohren offen zu halten und sein Wissen so teuer wie möglich zu verkaufen, falls er jemanden fand, der sich dafür interessierte. Sonja war mit seinesgleichen vertraut, es gab sie in der Unterwelt Shadizars genauso wie anderswo.
Er wartete, nachdem er durch seine Geste auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Sonja kratzte sich an der Kehle. In der Küche klapperten Töpfe.
Mit einem schlauen Lächeln stand der Mann auf und setzte sich Sonja gegenüber an ihren Tisch.
»Guten Morgen«, sagte er grinsend.
»Guten Morgen.«
»Kann ich Euch behilflich sein?«
»Möglich«, antwortete Sonja zögernd. »Es hängt vom Preis ab.«
Der Mann lächelte nun. Er musterte Sonja bedächtig.
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