Endithors Tochter
Mädchen aufmerksam.
»Komm, Lera …« Sendes deutete auf den Rest des Weines. »Setz dich, trink einen Schluck.«
»Nein, danke.«
»Ja, Mädchen«, warf Sonja ein. »Setz dich. Wir möchten gern deine Seite der Geschichte hören. Wir versuchen uns ein Bild zu machen, damit wir uns den nächsten Schritt überlegen können …«
Eine Stunde später – der Wein war getrunken und der Regen tropfte weiter gegen das Fenster – hatten sie alle bekannten Tatsachen zusammengestückelt und sich die einzuschlagende Richtung überlegt. Da waren auf einer Seite Nalor und Kus – Kus, der Vampir, der Hexer, der Nalor offenbar irgendwie in der Hand hatte. Auf der anderen Seite war Areel, die für ihren Vater Rache an Nalor üben wollte. Dafür hatte sie sich zur Zauberei entschlossen. Wie sie an dieses Wissen und die damit verbundenen Fähigkeiten gekommen war, ließ sich nicht sagen, doch dass sie jetzt eine Zauberin war, daran bestand kein Zweifel. Diese Tatsachen halfen die kürzlichen Ereignisse verstehen. Areel hatte Sendes ihren Willen aufgezwungen, damit er Nalor töte. Als das fehlschlug, hatte Nalor seinerseits einen Meuchler zu Areel geschickt. Auch der Meuchler hatte seinen Auftrag nicht durchführen können und hatte Areels Haus wieder verlassen. Sendes, der untertauchen musste, hatte sich gestern Nacht mit Lera in Verbindung gesetzt und ihr seinen Plan erklärt, wie etwas gegen Areel unternommen werden könnte. Und Areel war Stunden später in der gleichen Nacht aus unbekanntem Grund in die Stube über der Sonjas eingebrochen.
»Ich glaube, dieses Zauberamulett hat etwas damit zu tun«, sagte Sonja. »Vielleicht war Areel durch die ehemalige Bewohnerin der Stube zu ihren Zauberkräften gekommen – ich habe nämlich gehört, dass eine Hexe im ersten Stock gelebt hatte. Die vergangene Nacht war wahrhaftig eine Nacht ungewöhnlicher Ereignisse! Einer meiner kleinen Freunde folgte euch zwei – und Kus, der sein Glück versuchte, wo Nalor versagt hatte, kam in Areels Schlafgemach. Areel war nicht zu Haus, aber er griff dich an, Lera, und die sechs Diener, die keinen eigenen Willen mehr hatten und nur noch dazu da waren, Endithors Tochter zu beschützen. Ihr seht also: Alle Stücke passen zusammen.«
»Wir wissen nur nicht, wie es weitergehen soll«, erinnerte Sendes sie grimmig. Er blickte Lera an. »Du bist immer noch bereit, mir gegen Areel zu helfen?«
Das Mädchen nickte.
»Warum verlässt du Shadizar nicht einfach, Sendes? Durch dein Bleiben bringst du dich nur in Gefahr!«
»Egal, wie weit ich fliehen würde, Sonja, Nalor würde in jedem Land einen Preis auf meinen Kopf aussetzen. Das möchte ich vermeiden. Also muss ich mich zumindest noch eine Weile verbergen.«
»Und du, Lera?«
Die Dienerin senkte die Augen. »Areel würde mich finden – mich mit ihrer Magie töten. Ich glaube, sie hat vor, mich in einem Ritual gegen Kus zu opfern, wie – wie ihr Vater es versuchte …«
»Aber du hast mit all dem doch nichts zu tun, Sonja«, gab Sendes zu bedenken.
»Jetzt schon. Du weißt nicht, dass Kus herausfand, wo ich wohnte, gleich nach dem Vorfall auf dem Fest. Er und einige Wachen schlichen vor dem Haus herum und schauten zu meiner Kammer hoch. Ich hoffe, sie haben meine neue Unterkunft noch nicht aufgespürt.«
»Hast du sie seither gesehen?« fragte Sendes besorgt.
»Nein, aber ich bin sicher, dass sie finstere Absichten hatten und dass Kus bestimmt nicht so leicht aufgibt.«
Sendes schien sich ein wenig zu beruhigen. »Kus war zwar verärgert, aber ich, bezweifle, dass er und Nalor sich deinetwegen noch Gedanken machen. Alles, was sie im Augenblick wollen, ist Areels Tod – und genau das will ich auch!«
»Aber selbst wenn sie Areel aus dem Weg geschafft haben, werden sie nicht aufhören, Schrecken und Grauen über Shadizar zu bringen«, sagte Sonja.
»Es ist mir egal, was mit Shadizar passiert!« Sendes schüttelte ungeduldig, verärgert den Kopf. »Areel ist eine gefährliche Hexe – sie muss vernichtet werden. Wenn ich sie erst getötet habe, wird Nalor überzeugt sein, dass ich ihm treu ergeben bin, und dann kann ich wieder tun und lassen, was mir beliebt, ohne Angst vor meinem eigenen Schatten haben zu müssen.«
Sonja empfand plötzlich Verachtung für den jungen Corinthier.
»Das bedeutet, dass du dich deinem verärgerten Lord und Kus stellen musst, sobald du mit Areel und ihrer Zauberei fertig bist. Hast du wirklich den Mut dazu?«
Sendes schüttelte gleichmütig den Kopf.
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