Endlich wieder leben
Religionsunterricht die Klasse verlassen müssen, da mich meine kommunistischen Eltern nicht hatten taufen lassen – unter 39 Klassenkameraden war ich die einzige Atheistin. Im Zeugnis stand unter Religion »gottlos«, worunter ich sehr litt. Nun sollte ich wieder nicht dazugehören? Die Jungmädel machten so tolle Sachen, die gingen wandern und veranstalteten Heimabende! »Herterl, geh doch lieber nicht«, baten die Eltern. Doch da sie sich stärkeren Widerspruch nicht getrauten und ich als Neunjährige von Ideologie noch nichts verstand, bin ich gegangen. Ich bin ein Mensch, der Gemeinschaft braucht.
Bei Kriegsende musste die Familie meine Entscheidung teuer bezahlen. Als Antifaschisten fielen wir zwar nicht unter das Dekret, das die Enteignungen der Deutschen vorsah. Wir trugen auch keine weißen Armbinden wie die übrigen Deutschen, sondern rote. Doch auch in unserem Haus lungerten ständig zwei junge tschechische »Kommissare« herum, die mit der Enteignung deutschen Besitzes beauftragt waren. Arglos zeigte ihnen meine Mutter eines Tages unser Familienalbum, in dem das Herterl mit dunkelblauem Rock, weißer Hemdbluse und schwarzem Halstuch auftauchte. Also war doch ein Familienmitglied in einer faschistischen Organisation gewesen! Innerhalb einer Stunde mussten wir die Wohnung räumen; gerade einmal 35 Kilo Gepäck pro Person waren erlaubt. Wir waren obdachlos und mussten die Hilfe eines Nachbarn in Anspruch nehmen, der uns einen Raum über seinem Pferdestall anbot. Für meine Eltern war das schrecklich. Etliche Nachbarn hingegen dürften sich gefreut haben: Hatte mein Vater als Roter etwa gedacht, er sei etwas Besonderes? Schon nach drei, vier Tagen verließen wir Chodau und zogen zurück zu den Großeltern aufs Dorf.
Jetzt bin ich aber schon vorausgeeilt und wollte doch noch vom Kriegsende erzählen. Das Egerland war im Krieg weitgehend von Bombenangriffen verschont geblieben. Mein Cousin war allerdings
gefallen, und die Wohnung meiner Tante, deren Mann beinamputiert im Lazarett lag, war bei dem einzigen Luftangriff auf Karlsbad zerstört worden.
Bei uns tauchten die Amerikaner am Morgen des 7. Mai auf. Aus den Häusern, aus denen seit 1938 die Nazi-Fahnen gehangen hatten, hingen nun weiße Bettlaken. Und einige Frauen, deren Männer sich noch im Krieg oder in Gefangenschaft befanden, liefen den Soldaten entgegen: »Tschocklett, Tschocklett!« Die Freigiebigkeit der amerikanischen Soldaten hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Damals drängte sich mir das Gedicht »Deutschland über alles« von Walther von der Vogelweide auf, das wir gerade in der Schule besprochen hatten: »… Deutsche Fraun sind engelschön und rein/ Töricht, wer sie schelten kann,/… Zucht und reine Minne/Wer sie sucht und liebt,/Komm’ in unser Land, wo es noch beide gibt …« Wenn später immer wieder Empörung über die Vergewaltigungen der Russen laut wurde, habe ich nur gesagt: »Die Amis hatten das ja nicht nötig, denen haben sich die Frauen auch so an den Hals geschmissen.«
Wir konnten das Land dann doch noch privilegiert mit einem antifaschistischen Transport verlassen. Dass Antifaschisten mehr Gepäck mitnehmen durften, nutzte uns allerdings wenig. Wir besaßen kaum etwas außer zwei Betten. Die Ausreise vom Bahnhof Neudek war für den zweiten Weihnachtsfeiertag geplant. Stundenlang warteten wir bei Schneetreiben vergeblich auf einen Zug; erst am 28. Dezember 1945 ging es tatsächlich los, angeblich nach Thüringen. Unterwegs hieß es aber plötzlich: Nicht nach Thüringen, sondern nach Mecklenburg. Für die Egerländer Erzgebirgler war das ein Schock. Einige Männer, die das Land aus dem Krieg kannten, malten eine öde Gegend: Sand, Sand, Wüste. Keine Berge und keine Schwammerln! In schlechter Stimmung landeten wir in der Silvesternacht 1945/46 in Ludwigslust.
Wir wurden nach Grabow eingewiesen. Unter der Woche zog ich nach Schwerin, um die Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung zu besuchen. Als erste in meiner Familie sollte ich Abitur machen.
Ich kam bei Leuten unter, die wegen der Wohnungsnot eines ihrer drei Zimmer hatten abtreten müssen. Bald wurde ihre Wohnung jedoch von der sowjetischen Kommandantur übernommen. Und da ich in der neuen Zweizimmerwohnung des Ehepaars nur noch Platz auf der Wohnzimmercouch fand, ging ich viel ins Theater und ins Kino und setzte mich am Sonnabendmittag schnell nach Hause ab, um ihnen nicht in die Quere zu kommen.
Kommunist zu sein, war damals nicht populär. In der
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