Endlich wieder leben
Klasse waren sechs Mädchen und achtzehn Jungen, viele Kleinbürgertöchter und -söhne aus Stettin und anderen hinterpommerschen Orten, die Jungen alle älter, teilweise mit Kriegserfahrung, die meisten hauten nach der Ausbildung in den Westen ab. Wenn meine Deutschlehrerin mal nicht Frau von Stein oder Goethe oder Schiller behandelte, durfte ich Vorträge halten etwa über meinen geliebten Arbeiterschriftsteller Willi Bredel oder über den Verfassungsentwurf für Mecklenburg. Doch niemand schlug sich auf meine Seite. Die Klasse fand mich nicht unsympathisch, nahm mich aber nicht ernst, belächelte mich vielmehr nach dem Motto: Die tobt sich noch aus. Oder: Die spinnt, lass die doch.
Ab und zu versuchte ich, jemanden zur FDJ-Gruppe einzuladen. Doch niemand kam mit. Umso mehr freute ich mich, als ich erfuhr, dass eine Mitschülerin und mein Klassenkamerad Jürgen in die Partei eingetreten waren, ohne es mir zu sagen. Beide sind dabei geblieben und haben später an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED studiert. Sehr überrascht war ich allerdings, als mir der Chemielehrer beim Abiturball 1949 gestand, auch er sei Mitglied der Partei – das hatte er die drei Jahre, in denen ich von ihm unterrichtet wurde, nie zu erkennen gegeben!
Nach dem Abitur bewarb ich mich in Leipzig für das Studium zum Diplomhandelslehrer. Als wir dann aber im Rahmen der Zweiten Hochschulreform 1950 gefragt wurden, ob wir, die wir uns für die Erwachsenenbildung entschieden hatten, die Ausbildung in dem neu eingerichteten und für alle Studenten obligatorischen gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium übernehmen würden, habe ich
sofort ja gesagt und folgende Fächer studiert: Grundlagen des Marxismus-Leninismus, politische Ökonomie, dialektischen und historischen Materialismus, Geschichte der Arbeiterbewegung, ein bisschen Pädagogik, ein bisschen Psychologie.
Wenn ich mich später manchmal fragte, was aus mir wohl im Westen geworden wäre, habe ich mich immer nur als Verkäuferin gesehen. Tatsächlich wies die westdeutsche Soziologin Helge Pross in ihrem Buch über die Bildungschancen von Mädchen Ende der sechziger Jahre nach, dass es für ein Arbeitermädchen dort kaum Chancen auf ein Studium gab. In der DDR aber stiegen viele Arbeiterkinder auf wie ich. Nicht, dass ich dem Staat dafür dankbar gewesen wäre, nein, Dankbarkeit spürte ich nicht. Ich sah die DDR ja als meinen Staat, er gab mir, und ich gab zurück. Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich nicht genügend für Partei und Gesellschaft anstrengte oder dem Privaten Vorrang vor der Politik gab. Das Erste, was mir einfiel, als ich nach der Geburt meiner Tochter langsam aus der Narkose aufwachte: Jetzt muss aber schnellstens die Diplomarbeit fertig gestellt werden!
Noch im Studium lief mir der Landwirtschaftsstudent Heinz Kuhrig über den Weg, ein FDJ-Sekretär an der Landwirtschaftlichen Fakultät in Leipzig, genauso links wie ich und anderthalb Jahre und einen Tag älter. Heinz Kuhrig kam aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater bezog als Invalide eine minimale Rente, die Mutter verdiente etwas mit Schwarzarbeit dazu, indem sie zu Hause nähte. In seiner Kindheit hatte Heinz oft beim Kaufmann anschreiben lassen müssen und beim Großbauern für fünfzig Pfennig oder eine Mark drei Mal in der Woche den Hof gefegt. Auch er wusste um die Bedeutung der Bildung. Offensichtlich war er der Richtige für mich, und ich hoffe, ich war die Richtige für ihn.
Uns erging es wie fast allen jungen Paaren in der DDR: Unser Kind wurde früher als neun Monate nach der Eheschließung geboren. Man heiratete, wenn man schwanger war. Ich war eine von neunzig Prozent. Die DDR hatte das Spießige noch nicht überwunden. Bis heute frappieren mich diese Ungleichzeitigkeiten: Erstaunlich
fortschrittliche Regelungen und Denkweisen existierten neben sehr rückschrittlichen. Wir waren jedenfalls mehrere Monate verheiratet und lebten in anderthalb Zimmern im Studentenheim mit Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad, als unsere Tochter am 4. April 1952 zur Welt kam.
Meine Kommilitonen machten genau zu diesem Zeitpunkt Examen; ich und drei weitere Frauen waren wegen Schwangerschaft verhindert. Als wir die Prüfung im September nachholten, hat uns der Institutsdirektor des Franz-Mehring-Instituts in Leipzig bei der feierlichen Überreichung der Zeugnisse nicht nur beglückwünscht, sondern auch unüberhörbar kritisiert: Es wäre eigentlich unsere Aufgabe
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