Endlich wieder leben
die politische Ökonomie. Ich führte auch Seminare durch über die Geschichte der Arbeiterbewegung, über die Rolle der Partei, die Rolle des Staates, die vier Grundsätze der Dialektik und die drei Grundsätze des Materialismus entsprechend Stalins Geschichte der KPdSU (B), kurzer Lehrgang . Da saßen in den Seminaren wahrscheinlich zehn künftige Minister und ihre Stellvertreter und Dutzende künftiger Leiter Volkseigener Betriebe (VEB).
Meine Einführung in den historischen Materialismus begann ich immer mit den »Fragen eines lesenden Arbeiters« von Bertolt Brecht:
»Wer baute das siebentorige Theben?/In den Büchern stehen die Namen von Königen./Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? /Und das mehrmals zerstörte Babylon/Wer baute es so viele Male wieder auf? In welchen Häusern/des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?/Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war/die Maurer? … So viele Berichte./So viele Fragen.«
Es war eine gute, aber auch anstrengende Zeit für mich. Ich glaube, dass die Studenten dort glücklich waren, dass sie gern studierten und stolz waren, an der Hochschule für Ökonomie angenommen worden zu sein. Die ersten Studienjahrgänge hatten große Chancen,
wissenschaftliche Mitarbeiter zu bleiben oder in hohe Funktionen zu gelangen, weil die Ministerien erst einmal ihr eigenes Potential aufbauten. Ein Genosse, der Minister für Außenhandel wurde, hat immer gesagt: »Die Herta hat mir den Marxismus beigebracht.«
Ich habe in den Jahren 1952 bis 1957 an der Hochschule für Ökonomie ausschließlich unter Genossen gearbeitet, in einer abgetrennten Welt. Mir ist nicht ein einziger Fall in Erinnerung, dass in meinem Umkreis jemand verhaftet wurde oder einer von unseren Studenten abhaute. Ich mache diese Einschränkung: Mir ist keiner in Erinnerung. Im Übrigen war klar, dass wir Republikflüchtlinge scharf verurteilten. Die hatten mit Geldern der DDR studiert, und dann gingen sie! Und die DDR blutete aus! Ein gewisses Verständnis für die Flucht ist mir erst ganz spät gekommen, im Herbst 1989, als Honecker diesen unsäglichen Satz sagte, dass er den massenhaft Fliehenden »keine Träne« nachweine.
Inzwischen denke ich: Ein System, dem die Leute davonrennen, und ein System, das verlangt, dass du deinen Bruder oder deine Schwester oder deinen Vater nicht mehr kennst, weil er woanders wohnt, hat seinen humanistischen Anspruch verwirkt. Das ist aber das Urteil von heute. Damals dachte ich nicht so. Damals las ich Westliteratur nur zur ideologischen Schulung, unterhielt keinerlei Kontakt zur Schwägerin und zu meinen Verwandten in Westdeutschland und fuhr nie rüber nach West-Berlin – all das war ZK-Mitarbeitern und ihren Familienmitgliedern untersagt. Es hat mich auch nicht gereizt. Wirklich nicht. Wenn ich nach langen Parteiversammlungen spät abends nach Hause fuhr, habe ich richtig aufgepasst, dass ich in der S-Bahn-Station Schönhauser Allee aussteige und nicht eine Station weiter in Gesundbrunnen im Westen lande. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, etwas Illegales zu tun, denn ich war überzeugte Kommunistin wegen der frühen Erfahrungen mit Armut und Ungerechtigkeit in der Familie.
Bertolt Brechts »Lied vom Klassenfeind« kann ich noch heute fast auswendig:
Als ich klein war, ging ich zur Schule
und ich lernte, was mein und was dein.
Und als da alles gelernt war,
schien es mir nicht alles zu sein.
Und ich hatte kein Frühstück zu essen,
und andre, die hatten eins:
Und so lernte ich doch noch alles
vom Wesen des Klassenfeinds.
Und ich lernte, wieso und weswegen
da ein Riss ist durch die Welt?
Und der bleibt zwischen uns, weil der Regen
von oben nach unten fällt.
Nach der Wende fragten mich meine Enkelkinder – eines war damals fünfzehn, das andere dreizehn –, warum ich immer noch der Meinung sei, der Sozialismus sei besser als der Kapitalismus; ich hätte den Kapitalismus doch bei meinen Reisen zu Kongressen im Westen kennen gelernt. Da habe ich gesagt: »Weil das, was ich dort gesehen habe, mich davon überzeugt hat, dass der Kapitalismus eben auch nichts ist.« 1975 war ich beispielsweise zum Internationalen Jahr der Frau in New York. Da erzählte eine Amerikanerin bei der Anreise im Auto von einer Freundin, die wegen Gallensteinen operiert werden müsse. Und die andere: »Mein Gott, woher nimmt sie denn das Geld?« Das war für mich unfassbar! Du bist krank, und als erstes kommt die Frage nach dem Geld! Als mich eine Bekannte am
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