Endlich wieder leben
83,8 Prozent.
1955 kletterten die Flüchtlingszahlen wieder um 69 000 auf 253 000; 1956 und 1957 blieben sie mit 279 000 und 261 000 Flüchtenden ähnlich hoch. Daran änderte selbst die Aufstockung der Grenztruppen nichts. Ihre Gesamtstärke wuchs von rund 23 000 Mann im September 1953 auf etwa 30 700 Mann im Jahr 1954 und 39 200 Mann im Jahr 1956. 72
Im Grenzbereich wurde eine strengere Melde- und Aufenthaltspflicht für DDR-Bürger eingeführt, Grenzbewohner waren außerdem verpflichtet, Personen zu melden, die sich widerrechtlich in der Sperrzone aufhielten. Zudem sah das DDR-Passgesetz vom 15. September 1954 in Paragraph 8 erstmals explizit eine Strafe von bis zu drei Jahren für Republikflucht vor, in der erweiterten Fassung vom 11. Dezember 1957 wurde neben dem Versuch auch die Vorbereitung zur Flucht kriminalisiert. 73 Bis dahin war Republikflucht unter Vorwänden wie Steuerhinterziehung, Verstoß gegen Verordnungen des innerdeutschen Zahlungsverkehrs, Verbrechen gegen die Wirtschaftsordnung und Ähnliches verfolgt worden.
Ulf Meyer aus dem Ostseebad Wustrow wollte nichts riskieren und beantragte Mitte der fünfziger Jahre offiziell eine Besuchsreise in den Westen. Er hatte sich zwar dank alter Beziehungen seines Vaters an der Universität Rostock im Fach Medizin einschreiben können, obwohl ihm als Kind eines Arztes im Arbeiter- und Bauernstaat kein Studienplatz zugestanden hätte. Aber dann stolperte er über den Marxismus-Leninismus, der selbst im Medizinstudium zum obligatorischen Lernfach erklärt worden war. Sein Vortrag auf einem der vierzehntägig stattfindenden Seminare galt als Hetze. »Wenn Sie weiter studieren wollen«, so wurde ihm erklärt, »müssen Sie auf die Militärakademie nach Greifswald gehen oder sich ein paar Jahre in der Produktion bewähren«, sprich auf dem Bau arbeiten. Ulf Meyer wählte den Westen. Glücklicherweise hatte er in der DDR schon vier Semester studiert, so dass sein Abitur in der Bundesrepublik anerkannt wurde. Als auch seine Mutter eine Besuchsgenehmigung in den Westen erhielt, war sein Start nahezu reibungslos: Die Mutter musste seine Anträge im Notaufnahmelager Uelzen unterschreiben, damit er in der Bundesrepublik eine Aufenthaltsgenehmigung als alleinstehender Jugendlicher erhielt. Er war nämlich erst zwanzig Jahre alt – in der DDR seit zwei Jahren volljährig, im Westen aber immer noch minderjährig.
Die Motive für die Flucht waren vielfältig: Die Einen zog es in den Westen, weil sie dort Verwandte hatten, bessere Arbeitsbedingungen vorfanden, mehr verdienten oder weil sie – etwa nach dem 17. Juni 1953 – politisch verfolgt wurden, nicht der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beitreten wollten oder wegen ihres Glaubens vom beruflichen Aufstieg ausgeschlossen waren. Eine große Zahl von Oberschülern und Studenten verließ das Land, weil sie als Kinder von Akademikern kein Abitur machen durften oder nicht zum Studium zugelassen wurden. Viele junge Männer wollten sich auch der Werbung für die Kasernierte Volkspolizei entziehen, mit der seit 1952 der Grundstock für eine reguläre Armee gelegt wurde. Noch andere flüchteten aus der Enge, die ihnen nicht einmal einen Urlaub im Ausland ermöglichte.
Lehrer gingen, weil sie sich der ideologischen Ausrichtung der Schulen entziehen wollten oder als Christen die Entlassung fürchteten; Ärzte und Zahnärzte mit ausgeprägtem Besitzstandsdenken stießen sich an dem Angestelltenstatus in Polikliniken und Ambulatorien – schätzungsweise 5700 Mediziner kehrten der DDR bis 1961 den Rücken. 74 Es gingen auch solche, die sich am Arbeitsplatz überfordert sahen, familiären Problemen entfliehen wollten oder straffällig geworden waren.
Manchmal zogen Unternehmer, die in der DDR enteignet worden waren, große Teile der alten Belegschaft in ihre neuen Firmen im Westen nach, wie etwa der Tuchfabrikant Hentschke aus dem Kreis Forst, dem so viele Arbeiter folgten, dass sein Betrieb in Iserlohn als Klein-Forst bezeichnet wurde. In anderen Fällen wechselten Facharbeiter aus der DDR in entsprechende Betriebe in der Bundesrepublik, etwa die Spezialisten aus der Musikindustrie Klingenthal im Vogtland zu den Hohner-Werken in den Schwarzwald. Eine Abwerbung zog oft die nächste nach sich. In einigen Firmen der Bezirke Halle, Bitterfeld, Gera, bei den Zeiss-Werken Jena, den Dessauer Großbetrieben oder der Filmfabrik Agfa Wolfen schrumpfte die Belegschaft erheblich.
Der Biologiestudent Werner
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