Endlich wieder leben
einem Haus, das einem polnischen Arzt gehörte. Der Pole war mit seiner Familie in den Keller verbannt, seine Praxis im Erdgeschoss einem deutschen Arzt, seine Wohnung im ersten Stock meiner Familie zugewiesen worden. Neben Reichsdeutschen wie uns brachte Hitler im besetzten Warthegau die Deutschen unter, die er aus dem Baltikum, aus Wolhynien, Bessarabien und anderen osteuropäischen
Ländern »heim ins Reich« holte. Eines Tages war der polnische Arzt verschwunden. Er war wahrscheinlich mit Hunderttausenden seiner Landsleute in das Generalgouvernement umgesiedelt worden. Später fragte ich meine Mutter: »Hast du dich jemals erkundigt, wohin die Familie gebracht wurde?«
»Naja, man hat sich schon nicht mehr getraut zu fragen«, lautete die etwas überraschende Antwort. Eigentlich hatte meine Mutter nämlich eine Menge Zivilcourage. Aber damals hat sie nichts riskiert. Sie bekam natürlich mit, dass die polnische Bevölkerung malträtiert wurde.
Im Januar 1945 sind meine Mutter, mein Bruder und ich aus Posen geflohen, zunächst zurück ins mecklenburgische Barnstorf, nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen weiter zu Mutters Schwiegereltern nach Rohrsheim in den Harz, das damals noch in der amerikanischen Besatzungszone lag. Als Staffelkommandant und überzeugter Nazi hätte mein Vater im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands mit Verschleppung in ein sowjetisches Speziallager oder nach Russland rechnen müssen. Deshalb ließ er sich aus der englischen Kriegsgefangenschaft zu seinen Eltern nach Rohrsheim entlassen. Etwa ein Jahr lang wohnten wir dort, mein Bruder ist dort eingeschult worden. Dann kehrten wir zurück nach Barnstorf, da die Rote Armee vom Fischland abgezogen war und sich die Lage etwas beruhigt hatte.
Vater brauchte nun keine Verhaftung mehr zu fürchten, fand allerdings keine Arbeit in seinem Beruf als Kapitän. Die wenigen Schiffe, die bei Kriegsende im Hafen von Rostock lagen, waren von der Roten Armee beschlagnahmt und als Kriegsbeute abgefahren worden. Es war nicht absehbar, wann die Ostzone wieder eine Seeschifffahrt aufbauen würde. Eine Zeitlang arbeitete mein Vater beim Goldschmied Kramer in Ribnitz und stellte Aschenbecher, Teller und ähnliche Gegenstände aus Kartuschen her, die sich in den Beständen der Küstenartillerie am Hohen Ufer fanden, der Steilküste westlich von Ahrenshoop. Dann wechselte er zur Fischerei in Sassnitz auf Rügen, die unter russischer Aufsicht in der Ostsee fischte. Auch das hat
ihn nicht befriedigt. Er wollte wieder als Kapitän auf einem richtigen Handelsschiff zur See fahren. Als Anfang 1949 ein Telegramm aus Hamburg eintraf, in Westdeutschland ginge es wieder los mit der Schifffahrt, hat er sich sofort aufgemacht und bei derselben Reederei angeheuert, mit der er auch vor dem Krieg zur See gefahren war.
Meine Mutter hat immer gehofft, die Verhältnisse würden sich bessern, sie könnte in ihrem geliebten Barnstorf bleiben und zwischen Ost und West pendeln. Aber das Pendeln erwies sich von Anfang an als schwierig. Die ersten Jahre ging sie über die grüne Grenze bei Boizenburg in Mecklenburg oder auch in Rohrsheim in Sachsen-Anhalt. Der Bauernhof ihrer Schwiegereltern lag inzwischen in der Sowjetisch Besetzten Zone, direkt an der Zonengrenze; mein Vater hat vor seiner eigenen Flucht viele Menschen in den Westen gebracht. Er führte sie nachts von seinem Elternhaus zu einem schmalen Grenzgraben, dort lag im Gebüsch ein Brett versteckt, das über den Bach geworfen wurde. So balancierten die Menschen hinüber, einige kamen auf demselben Weg zurück. Bei einem dieser Grenzübertritte ist meine Mutter festgenommen worden. Sie hatte sich nachts verlaufen, es war schlechtes Wetter, ihr war kalt. Da ließ sie sich bewusst aufgreifen – es hatte sich herumgesprochen, dass man damals in der Regel nach nur einem Tag wieder freikam – und fand in der Zelle die Inschrift: »Hier saß ich 24 Stunden gefangen, weil ich von Deutschland nach Deutschland ging.« Ich fand den Irrsinn der Lage gut in diesem Spruch wiedergegeben.
Als an der Zonengrenze die Sperrzone eingerichtet wurde, fuhr meine Mutter nur noch über Berlin. Sie führte zwei Existenzen. Mein Vater hatte sie in Hamburg angemeldet und ihr dadurch auch einen westdeutschen Pass verschafft. Auf der Hinreise nach Hamburg reiste sie also mit ihrem ostdeutschen Ausweis nach West-Berlin, dort tauschte sie in der Pension, in der sie regelmäßig für ein oder zwei Nächte abstieg, ihren ostdeutschen gegen
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