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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Land verlassen, so waren es 1952 bereits 182 393 Personen, darunter beispielsweise Mutter und Kinder Kautzenbach aus Franzburg bei Stralsund.
    Vater Kautzenbach, Vorsitzender der CDU-Ortsgruppe, Fraktionsführer im Stadtrat und Kreistag sowie Synodaler in der Kreis-und Landessynode der evangelischen Kirche Greifswald, war bereits im März 1950 geflüchtet, da er nach seiner Suspendierung als Lehrer und der kurz darauf erfolgten Entlassung aus dem Schuldienst mit weiteren Repressionen zu rechnen hatte. Frau und Kinder folgten Anfang Juli, nachdem der Sohn das Abitur bestanden hatte. Trotz Warnungen fuhren sie im Zug, kamen aber glücklich bei ihrem Fluchthelfer in einem Grenzort in Sachsen-Anhalt an. Am ersten Abend konnten sie nicht zur Grenze geführt werden, weil der Trupp mit sechs Grenzgängern bereits voll war. Am nächsten Abend wurden sie geschnappt, so schrieb der Sohn im Telegramm an den Vater nach gelungener Flucht, »150 m vor der Grenze. Zu scharf. Kein Durchkommen. In derselben Nacht hier und Umgebung 150 Grenzgänger geschnappt.« 62 Sie kamen in einen Bunker, wurden verhört, mussten Geld und Pässe abgeben. »ALLES kam raus. Du Westen, politisch. Kein Auge zugemacht, nur Stühle, kalt, furchtbares Gewitter, wir aber Glaube, Gebet.« Am nächsten Morgen erfolgte die Überführung
in einen vier Kilometer entfernten Bunker. Würden sie nochmals verhört, käme die Mutter sogar ins Gefängnis? Doch dann die große Erleichterung: »Wir alle unsere Ausweise und Geld zurück … man ließ uns als ERSTE! trotz Dir laufen. 52, – Mark sollten wir zahlen, doch erst, wenn zu Hause. Denken die!«
    Für Mutter und Kinder Kautzenbach gab es nur das Vorwärts über die Sektorengrenze in Berlin und die anschließende Ausreise in die Westzonen. Am 7. Juli meldete Sohn Friedel dem Vater aus Mackendorf im Kreis Helmstedt die Ankunft in der britischen Besatzungszone.
    Die Abwanderung aus der SBZ und später aus der DDR stieß bei den Machthabern in Ost-Berlin erstaunlich lange auf relatives Desinteresse. Es kam der SED anfangs nicht einmal ungelegen, wenn Angehörige der alten Eliten ausreisten, ersparte es ihr doch Konflikte beim personellen Wechsel in Staat und Wirtschaft. 63 Nach Bodenreform (»Junkerland in Bauernhand«), Enteignungen und Entnazifizierungen weinte man jenen keine Träne nach, die in der neuen Ordnung als Störenfriede empfunden wurden: Großgrundbesitzer, »Faschisten und Kriegsverbrecher«, »Kapitalisten«, Juristen, Professoren, Ingenieure, die als nicht integrierbar in die »antifaschistisch-demokratische Umwälzung« galten, Mitglieder von SPD, CDU und LDP, die sich der Unterwerfung ihrer Parteien unter das SED-Regime widersetzten. »Solche Fluchten vor Repressionsmaßnahmen oder -drohungen bedauerten die Kommunisten nicht als Verluste, sondern interpretierten sie als Bestätigung ihrer zuvor gehegten Verdachtsmomente.« 64
    Ausreise bedeutete zudem Entspannung der Versorgungslage. Es gab zu wenig Lebensmittel, zu wenig Arbeitsplätze, zu wenige Wohnungen. Wer abhaute, musste nicht mehr versorgt werden und nahm etwas von dem politischen und ökonomischen Druck. Noch im August 1952 wies die Hauptabteilung Pass- und Meldewesen die Landespolizeibehörden an, jede Übersiedlung nach Westdeutschland zu genehmigen, »wenn der DDR ein Vorteil daraus entsteht«. 65

    Andererseits konnte die SED nach Gründung der DDR 1949 den Grenzübertritten nicht weiter tatenlos zusehen, demonstrierten sie doch, dass der neue Staat unfähig war zur Bewachung seiner eigenen Grenzen. Sie konnte auch die Augen nicht mehr davor verschließen, dass massenweise Menschen die DDR verließen, die dringend gebraucht wurden: Wissenschaftler, technische Intelligenz, Facharbeiter, Klein-, Mittel- und Neubauern, die zuvor noch nicht auffällig geworden waren. Selbst Grenzpolizisten flohen. Am 4. September 1950 wurden zwölf Kameraden des Grenzkommandos Kietz/Elbe bei Eldena verhaftet und über das Ministerium für Staatssicherheit in Schwerin den Sowjets übergeben. Das Sowjetische Militärtribunal Nr. 48240 verurteilte den zwanzigjährigen Egon Roth, einen gelernten Flugzeugmetallbauer, und fünf seiner Kollegen wegen Spionage, Aufstand, antisowjetischer Tätigkeit und Propaganda sowie Aufbau einer konterrevolutionären Organisation zum Tod durch Erschießen. Das Präsidium des Obersten Sowjets lehnte die Gnadengesuche ab, die Todesurteile wurden am 18. und 24. April 1951 in Moskau vollstreckt. 66 Es war das schärfste

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