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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Genehmigungsstempel im Ausweis. Der Flüchtlingsstrom konnte trotzdem nicht eingedämmt werden. Bis zum Mauerbau 1961 verließen 2,7 Millionen Menschen die DDR.
    Nach Einrichtung der Sperrzone verblieben von ursprünglich 38 Eisenbahnlinien zwischen der Bundesrepublik und der DDR nur sechs, von Hunderten größerer und kleinerer grenzüberschreitender Straßen nur fünf Übergänge. In Berlin wurden 200 von 277 Verbindungsstraßen geschlossen und die direkten Fernsprechleitungen von Ost- nach West-Berlin unterbrochen.
    Um den Fluchtgedanken erst gar nicht aufkommen zu lassen, berichteten Rückkehrer im Neuen Deutschland von katastrophalen Zuständen in den Flüchtlingslagern, von Erpressungen durch westliche Geheimdienste und vom »ausweglosen Elend« im »Goldenen Westen«. Dabei war die Lebensmittel-Rationierung in der Bundesrepublik bereits zum 1. Mai 1950 aufgehoben worden, während in der DDR die Lebensmittelmarken und die Rationierung von Fleisch, Fett und Zucker erst im März 1958 abgeschafft wurden. Abschrecken sollten auch verstärkte Kontrollen auf den Zufahrtswegen nach Berlin, etwa in Personen- und D-Zügen im Bezirk Rostock, wo Einsatzgruppen der Kriminalpolizei im Herbst 1952 gezielt nach Republikflüchtlingen fahndeten, um sie speziellen Vernehmungsgruppen zuzuführen.
Man achtete allerdings stärker auf den Einzelfall, um nicht nur abzuschrecken, sondern auch zu werben. Der Neubauer A. aus Jamel im Kreis Wismar, der Mitglied der SA und NSDAP sowie einer Polizeieinheit zur Bekämpfung von Partisanen gewesen war, außerdem als ehemaliger Ostpreuße aus Westdeutschland den Ermländer Pfingstboten bezog und illegal Zuckerrübenschnaps herstellte, konnte nicht mit mildernden Umständen rechnen und wurde der Staatsanwaltschaft übergeben. Der Mittelbauer L. aus dem Kreis Bützow hingegen, der angeblich den Einflüsterungen eines unbekannten Fremden erlegen war und kurzfristig die Auswanderung nach Afrika erwogen hatte, erhielt eine zweite Chance und durfte als Reumütiger mit Frau und Kindern straflos auf seine Scholle zurückkehren. 71
    Doch weder administrative noch propagandistische Maßnahmen vermochten die Fluchtbewegung wirksam einzudämmen. Im Gegenteil. Die Beschlüsse auf der II. Parteikonferenz der SED im Juni 1952 trieben noch mehr Menschen aus dem Land. Denn an die Stelle des demokratisch-antifaschistischen Aufbaus der ersten Nachkriegsjahre trat der beschleunigte Aufbau des Sozialismus. Dem Ausbau der Schwerindustrie wurde der Vorrang eingeräumt, private Handels- und Industriebetriebe gerieten unter stärkeren Druck, Hausbesitzern, Großbauern und anderen wurden im Zuge eines »Sparsamkeitsregimes« die Lebensmittelkarten entzogen. Auf dem Land wurden Gründung und Ausbau der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) beschleunigt und die Steuersowie Ablieferungsschulden der Einzelbauern verstärkt eingetrieben. Mehr als 15 000 Bauern verließen von 1952 bis zum 17. Juni 1953 ihre Höfe und flohen in den Westen. Vor allem Selbstständige und politisch Andersdenkende sahen für sich keine Zukunft mehr in der DDR. Die Zahl der Flüchtlinge stieg im Laufe des Jahres 1953 auf die Rekordhöhe von 331 000.
    Explizit mit Verweis auf die hohen Flüchtlingszahlen forderte die sowjetische Besatzungsmacht Anfang Juni 1953 eine Korrektur der Beschlüsse vom II. Parteitag: eine Drosselung des Tempos bei der Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, damit der
Widerstand in der Bevölkerung nicht weiter anwuchs. Das Politbüro versprach zwar umgehend, die Erhöhung der Arbeitsnormen zurückzunehmen, ferner den Klassenkampf gegen die privaten Bauern zu mildern, die Rückkehr von Republikflüchtlingen zu erleichtern und beschlagnahmtes Eigentum zurückzuerstatten. Doch der »Neue Kurs« kam zu spät, um den Ausbruch der Unruhen am 17. Juni noch zu verhindern, zudem war er, wie sich sehr schnell zeigte, rein taktischer Natur gewesen. Die vorübergehenden Lockerungen bei der Ein- und Ausreise wie die übrigen Liberalisierungen ließen die Flüchtlingszahlen zwar auf 181 000 im Jahr 1954 fallen – viele wollten an eine Entspannung glauben. Doch bereits 1954 kehrte die SED allmählich zur alten Politik zurück. So stieg beispielsweise der Anteil der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, in die die Bauern nicht nur Boden und Maschinen, sondern ihren gesamten landwirtschaftlichen Besitz einschließlich Vieh und Gebäuden einbrachten, zwischen Oktober 1954 und Ende 1956 von 58,3 auf

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