Endlich wieder leben
Meinel ging, weil er für sich keine wissenschaftliche Zukunft in der DDR sah. Und er ging, weil er seine Kinder nicht einer permanenten Diskreditierung aufgrund ihres christlich-bürgerlichen Elternhauses aussetzen wollte. Er hatte großes Glück, als seiner gesamten sechsköpfigen Familie Ende der fünfziger Jahre eine Besuchsreise in die Bundesrepublik genehmigt wurde. Allerdings musste er den größten Teil seines Geldes auf dem Konto zurücklassen und konnte Porzellan, Silber und Schmuck nur einem guten Bekannten übergeben in der Hoffnung, er würde sie nach und nach bei einem Antiquitätenhändler verkaufen können. Papiere wie Geburts-, Approbations- und Promotionsurkunden, die unerlässlich waren für einen Neuanfang im Westen, verschraubte er in der Hohlkehle der Stoßstange seines Wartburgs. Liebesbriefe an seine Frau, die in die Hände von Grenzern oder Sicherheitsbeamten
hätten fallen können, verbrannte er stundenlang im Ofen der Zentralheizung, und zwar nachts, damit der rauchende Schornstein den Nachbarn nicht auffiele.
Dem gläubigen Protestanten Meinel fiel die Flucht nicht leicht. Er wusste, dass seine Kirche die Entscheidung missbilligen würde. Franz-Reinhold Hildebrandt, Präses der Kirchenkanzlei der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, kritisierte ihn denn auch in einem Brief wegen des »uns sehr betrübenden Beispiels für Ihre Kollegen, die die Kirche ständig um des christlichen Gehorsams willen ermahnt, ihren Dienst in unserem Land nicht zu verlassen.« 75
Meinel verstand den Schmerz der Zurückbleibenden. Aber hatten die Gehenden nicht auch ein Recht auf die freie Gestaltung ihres Lebens? Für Meinel jedenfalls erfüllte sich sein beruflicher Traum. Er promovierte und habilitierte sich in Gießen, von 1971 an war er Professor für Zoologie und Vergleichende Anatomie an der Universität Kassel.
Immer öfter versuchten die DDR-Behörden, Fluchten schon im Vorfeld zu verhindern. Gezielt wurden IM (Inoffizielle Mitarbeiter) der Staatssicherheit unter Briefträgern, Taxifahrern, Fahrkartenverkäufern, Bankangestellten et cetera angeworben. Sie sollten über auffälliges Verhalten von Personen berichten, die etwa bei den verschiedenen Geldinstitutionen größere Summen abhoben oder Möbel, Fahrzeuge und andere Wertgegenstände verkauften. In den Zügen wurden vermehrt Gepäckkontrollen durchgeführt, auf Fernverkehrsstraßen und Zufahrtsstraßen nach Berlin Autos stichprobenartig kontrolliert, an den Sektorengrenzen in Berlin Geschwindigkeitsbeschränkungen eingeführt und Stopp-Schilder aufgestellt zur Verhinderung gewaltsamer Durchbrüche. Doch keine dieser Maßnahmen war wirklich effektiv. Nach einem kurzen Rückgang der Flüchtlingszahlen 1958 (144 000) stiegen die Republikfluchten 1960 auf 199 000 an. Von insgesamt 202 gewaltsamen Grenzdurchbrüchen von Ost nach West mit 275 Personen erfolgten 179 in den ersten drei Quartalen 1960. In einigen Fällen durchbrachen Bauern die Grenze mit Vieh, Fahrzeugen und Hausrat am helllichten Tag.
Deutschland war geteilt, aber noch nicht endgültig. Die Grenze war deutlich mit dem Kontrollstreifen gezogen, aber ein einfacher Stacheldrahtzaun von zwei Metern Höhe war das einzige Hindernis, das zudem in manchen Bereichen noch fehlte. So standen sich die Zweierstreifen der Grenzpolizei, wenn sie hüben und drüben unterwegs waren, fast täglich »Auge in Auge« gegenüber. Dies führte, weiß Herbert Böckel, der Ende der fünfziger Jahre auf westdeutscher Seite an der hessisch-thüringischen Grenze eingesetzt war, »zwangsläufig und automatisch zu verschiedenen menschlichen Begegnungen, Kontakten und Gesprächen mit nicht ganz linientreuen Genossen und Kameraden in der anderen Uniform«. Vom Westen aus wurden manchmal Schokolade, Südfrüchte, Schallplatten und Nylonstrümpfe über den Draht gereicht, der Osten revanchierte sich mit Souvenirs aus der Bekleidungs- und Ausrüstungskammer der Grenzkompanie, manchmal auch mit Informationen über Standorte und Streifentätigkeiten, um die der Westen gar nicht gebeten hatte.
Am nachdrücklichsten ist Herbert Böckel der Heiligabend 1959 in Erinnerung. Ein Trupp des Bundesgrenzschutzes verlief sich an diesem Tag bei Nebel, Schneegestöber und Dunkelheit im Wald. Schließlich landeten die sieben Westgrenzer in einem Gasthaus auf der DDR-Seite, in dessen Hinterzimmer es sich drei DDR-Grenzer gemütlich gemacht hatten und Skat spielten. »Der erste der drei Volkspolizisten stand sprachlos und völlig
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