Endlich wieder leben
erstarrt im Raum und wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als traue er seinen Augen nicht … Da waren die Schergen des Klassenfeindes, vor denen man sie öfter eindringlich gewarnt hatte, doch tatsächlich und leibhaftig … mit der Waffe in der Hand eingedrungen und schickten sich an, das eigene, als unantastbar geltende Territorium zu besetzen … Es war eine angespannte, brisante Situation zwischen Erstarren, Angst und Bangen sowie einer spürbaren Ratlosigkeit entstanden. Keiner sagte ein Wort, und die Gedanken der Anwesenden konnte man nicht lesen, sondern nur erahnen.« Böckel fasste sich als Erster, ging auf die »feindlichen Brüder« zu und streckte die Hand aus: »Na
denn, Jungs, frohe Weihnachten!« Der Abend endete bei einem gemeinsamen Essen mit Bier und Schnaps. Dann brachten die Ostgrenzer die Westgrenzer zurück, und die Westgrenzer einigten sich, dass es die eleganteste Lösung wäre, eine Meldung zu unterlassen und sich so alle unangenehmen Fragen und vielleicht sogar Disziplinarmaßnahmen zu ersparen. 76
Wer nicht den schwierigen Weg durch die Sperrzone riskieren wollte, dem blieb der Weg über Berlin. Die Grenze zwischen dem Ostsektor und den Westsektoren war offen, noch im Sommer 1961 wurde sie täglich von gut 56 000 DDR-Bürgern passiert, die in West-Berlin arbeiteten, und von knapp 13 000 West-Berlinern, die eine Arbeitsstelle in Ost-Berlin hatten. 77 Dazu kamen die Besucher, die es hinüber und herüber zog, sei es, um im Osten an der Komischen Oper eine Inszenierung von Walter Felsenstein zu sehen oder sich billig die Haare schneiden zu lassen, sei es, um im Westen echten Bohnenkaffee zu trinken oder Fahrradersatzteile einzukaufen, an denen im Osten Mangel herrschte.
Wer im Verdacht stand zu fliehen, musste zwar mit seiner Festnahme rechnen. Die meisten kamen aber ungehindert durch, wenn sie sich mit wenig oder gar keinem Gepäck zu Fuß oder in der S-Bahn auf den Weg machten. Die ersten Anlaufstellen im Westen waren in der Regel die Notaufnahmelager. Spandau »war restlos überfüllt«, berichtete der Übersetzer Karl Dedecius, der aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Das Aufnahmeverfahren zog sich über zwei Wochen hin. »Noch im Dezember hatten zahlreiche Untersuchungen stattgefunden – ärztlicher Dienst, Schirmbildstelle, Sichtungsstelle, Zuständigkeitsprüfung, Polizei.« Zudem wurden er und seine hochschwangere Frau von amerikanischen, britischen sowie französischen Beamten nach Herkunft und Zukunftsplänen befragt (sollten sie beispielsweise als sowjetische, polnische oder DDR-Spione eingeschleust werden?), auch vor dem Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen und der Ländervertretung Rheinland-Pfalz (wo die Familie von Karl Dedecius wohnen wollte) hatten sie Rede und Antwort zu stehen. Erst Mitte Februar 1953 wurde der
»Flug eingeleitet«, gleichzeitig erfolgte die Aushändigung der Aufenthaltsbewilligung. »Am Ende der befreiende Seufzer: Flüchtlingsausweis A. Im Westen willkommen.« 78
Bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 verließen 2,7 Millionen Menschen die DDR. Eindeutig dokumentiert wurden bis zu diesem Zeitpunkt siebzehn Todesfälle an der innerdeutschen Grenze und zwei weitere in Berlin. 79
Zum Beispiel Heidi Lüneburg
D ass wir fliehen würden, erfuhr ich erst, als meine Mutter mit mir und meinem Bruder bereits im Zug nach Berlin saß. Ich war eine Plaudertasche, und Mutter hatte Angst, ich könnte uns verraten. Mein Vater lebte der Arbeit wegen schon seit 1949 in Hamburg, meine Mutter war mit uns Kindern noch auf dem Fischland an der Ostsee geblieben. Sie war sehr traditionsbewusst und heimatverbunden. Sie hätte auch niemals ihren alten Vater allein zurückgelassen. Wir gingen erst, als mein Großvater im Oktober 1952 gestorben war. Hätte er noch zehn Jahre länger gelebt, wäre sie zehn Jahre länger geblieben.
Mein Vater hatte eine Ausbildung an der Seefahrtsschule in Wustrow gemacht. Wie viele angehende Kapitäne heiratete er eine Einheimische und blieb auf dem Fischland hängen. Nach der Hochzeit 1938 wohnte das junge Paar in dem unmittelbar an Wustrow angrenzenden Barnstorf, im reetgedeckten Haus meines Großvaters direkt am Saaler Bodden, dem großen Binnengewässer, nur wenige Hundert Meter von der Ostsee entfernt.
Im Krieg nahm mein Vater am Frankreichfeldzug teil, dann wurde er als Staffelkommandant bei der Luftwaffe im besetzten Posen stationiert. Die ersten vier Jahre meines Lebens verbrachte ich daher in
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