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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Vorgehen gegen Grenzpolizisten in jener Zeit.
    Nicht zufällig traten neue Grenzsicherungsmaßnahmen am 27. Mai 1952 in Kraft, dem Tag, an dem Konrad Adenauer den Vertrag für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unterschrieb, ein Bündnis, das dem späteren NATO-Beitritt vorausging. Westdeutschland konnte als Spalter dargestellt werden, als Land, das durch seine militärische Westbindung das Ziel der Einheit aufgab und kein Entgegenkommen mehr verdiente.
    Die DDR-Regierung antwortete mit der Errichtung einer fünf Kilometer breiten Sperrzone. Unmittelbar an der Demarkationslinie wurde ein zehn Meter breiter Kontrollstreifen gerodet, der den Grenzposten ein freies Blick- und Schussfeld bot, allein von ihnen betreten werden durfte und jedes Frühjahr und jeden Herbst frisch gepflügt und geeggt werden musste. »In den Wäldern arbeiteten Kolonnen mit Motorsägen«, schrieb der Rheinische Merkur . »Dann wuchsen auf diesem Streifen die ersten Hindernisse, um hier, mitten
in Deutschland, eine solche Grenze zu schaffen, wie sie im Westen nicht einmal an den echten Landesgrenzen zu finden ist.« 67 Dahinter folgte ein 500 Meter breiter »Schutzstreifen«, in dem »feindliche, verdächtige und kriminelle Elemente« ausgesiedelt und Gaststätten, Pensionen und Erholungsheime geschlossen wurden. In der anschließenden fünf Kilometer breiten »Sperrzone« erhielten Einwohner einen besonderen Stempel in die Ausweise und durften keinen Interzonenpass mehr beantragen. Anfang Juni 1952 erhielt auch die bis dahin unbewachte Ostseeküste eine fünf Kilometer breite Sperrzone.
    Den größten Schock rief die Aussiedlung von Grenzbewohnern hervor. 8351 Menschen mussten im Mai/Juni 1952 innerhalb von 24 Stunden ihre Häuser räumen. Die »Aktion Ungeziefer« traf vor allem selbstständige Landwirte, Kaufleute und Gaststättenbesitzer. Die meisten wurden ins Innere der DDR deportiert, etwa 1900 entzogen sich der Deportation durch Flucht in den Westen. »Wir waren unfähig, dieses Ereignis zu begreifen, geschweige denn, es richtig einzuordnen«, schrieb die Bauerntochter Christa Schleevoigt, geb. Walther, aus dem kleinen thüringischen Dorf Heubusch. »Den Hof und das Haus verlassen, das war nur im Todesfall denkbar. Bauern sind traditionsbewusst, handeln immer im Sinn der Vorfahren und bedenken das Leben der Nachkommen. Mein sonst so tatkräftiger Vater ging mit hängenden Armen durch alle Zimmer des Hauses, in den Stall, in die Scheunen, in den Garten, ohne etwas zu tun oder zu sprechen. Meine Mutter stand mit Nachbarinnen in der Küche. Sie machten sich Gedanken, was nun werden wird, ob wir etwa nach Sibirien oder nur an die polnische Grenze als Landarbeiter kämen.« 68 Die Familie landete in zwei Räumen ohne Wasseranschluss in einem Behelfsheim im Jenaer Stadtteil Lobeda, wo einst Kriegsgefangene untergebracht worden waren und noch immer Flüchtlinge und Vertriebene lebten. Zum ersten Mal in ihrem Leben waren die Eltern gezwungen, sich einen Broterwerb außerhalb des Hauses zu suchen.
    In manchen Dörfern stieß die »Aktion Ungeziefer« auf massiven Widerstand. Im thüringischen Dorndorf beispielsweise weigerten sich drei Familien, ihre Wohnungen zu verlassen. »Und die ganze Bevölkerung einschließlich der FDJ ergriff für die Ausgewiesenen Partei«, notierte Kirchenrat Paul Dahinten in der Kirchenchronik des Nachbarortes. »Die Polizei war machtlos. Als sie von der Schusswaffe Gebrauch machen wollte, wurde ihr bedeutet, wenn ein Schuss fällt, verlässt kein Polizist lebend Dorndorf.« 69 Im thüringischen Streufdorf liefen, als morgens um sechs Uhr die Glocken läuteten, Bauern und Jugendliche auf die Straße, um die Evakuierungsmaßnahmen zu verhindern; Schuldirektor Herbert Böhm ließ Schüler der Klassen 7 und 8 bereits verladene Möbeln wieder von den Lkw holen. Erst mit Hilfe von Wasserwerfern der Bereitschaftspolizei aus den umliegenden Orten und mit fünfzig Mann berittener Polizei konnte der Widerstand der Dorfbevölkerung gebrochen werden. Schuldirektor Böhm wurde zusätzlich ausgesiedelt, drei Streufdorfer Bürger erhielten vom Bezirksgericht Suhl am 23. September 1952 Zuchthausstrafen zwischen vier und acht Jahren. 70

    Bild 11
    Im Rahmen der »Aktion Ungeziefer« wurden im Jahr 1952 Tausende Grenzbewohner ausgesiedelt, die der SED als nicht linientreu galten. Wer in der neu eingerichteten, fünf Kilometer breiten Sperrzone entlang der deutsch-deutschen Grenze wohnen blieb, brauchte einen besonderen

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