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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Barnstorf vorbei, sagte freundlich
»Guten Tag!« und war überzeugt, dass sie eines Tages hierher zurückkehren würde. Sie war keineswegs verbittert. Sie hatte noch Hoffnung. Als die ersten Strohdächer auf Föhr gebaut wurden, sagte sie: »So eines setzen wir uns in Barnstorf auch einmal auf die Koppel.«
    Verbittert wurde meine Mutter erst, als die Mauer fiel und sich im April 1990 herausstellte, dass ihr Haus ihr nicht mehr gehörte. Mit dem Acker gab es bei der Rückübertragung keine Probleme. Aber das Haus war ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung verkauft worden. Sie war enteignet worden und konnte nicht nach Hause zurück. Da hat sie einen Satz gesagt, den ich niemals vergessen werde: »Ich habe immer gedacht, dass ich nach Hause gehen kann, wenn die Grenze aufgeht. Und jetzt ist die Grenze auf, und ich bin von zu Hause weiter weg als jemals zuvor.«
    Sie ist nie mehr nach Barnstorf gefahren. Sie wollte überhaupt nicht mehr über das Haus sprechen. »Mach damit, was du willst«, sagte sie und gab mir eine Vollmacht. Ich bin überzeugt – wie übrigens auch ihr Arzt –, dass der Verlust der Hoffnung dazu führte, dass sie zu kränkeln begann und nach zwei Jahren starb. Deswegen musste ich kämpfen. Ich kämpfte an ihrer Stelle und bin vor die Gerichte gezogen. Und als die letzte Instanz endlich ihr Urteil gefällt hatte, bin ich zum Friedhof gelaufen und habe ihr erzählt, wie wir den Prozess schließlich gewonnen haben.
    Herr L. hatte sich mit der Weigerung meiner Mutter, das Haus zu verkaufen, nicht zufriedengegeben und darauf gedrängt, diese Frau im Westen endlich zu enteignen. Doch erst als ein ortsfremder Bürgermeister in Wustrow eingesetzt wurde, ein strammer Kommunist, fand Herr L. einen Verbündeten. Unser Haus wurde aus der Verwaltung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft herausgenommen, der Gemeinde übereignet und von der Gemeinde an Herrn L. verkauft. Das geschah 1986, als Privatbesitz nach dem Städteaufbaugesetz in der DDR nur noch bei öffentlichem Interesse enteignet werden durfte, etwa beim Straßenbau, beim Bau von Schulen, Flugplätzen et cetera. Die Enteignung war also gegen gültiges DDR-Recht erfolgt.

    Ich habe achtzehn Jahre um dieses Haus prozessieren müssen. Mein Bruder war zwischendurch müde. Aber ich habe gesagt: »Ich muss jede, aber auch jede Möglichkeit ausschöpfen, damit ich in Frieden mit mir bin.« Gott sei Dank konnten mein Bruder und ich uns das juristische Vorgehen leisten. Ich weiß aus Gesprächen mit ähnlich Betroffenen, dass viele mögliche Rückübertragungen an den finanziellen Aufwendungen für jahrelange Prozesse und den daraus resultierenden nervlichen Belastungen gescheitert sind.
    Ich habe die Sache durchgefochten bis zum Bundesverwaltungsgericht. Die Chance, dass eine Revision dort überhaupt angenommen wird, beträgt gerade einmal fünf Prozent. Und hätte das Bundesverwaltungsgericht die Revision abgelehnt, wäre das Verfahren endgültig zu Ende gewesen. Doch das Gericht verwies das Verfahren zurück an das Oberverwaltungsgericht in Mecklenburg-Vorpommern, und dort bekamen wir im zweiten Anlauf endlich Recht. Es hat keinen vergleichbaren Fall gegeben.
    So hat sich ausgezahlt, dass ich standfest und vielleicht sogar dickköpfig bin. Seit 2008 gehört das Haus wieder unserer Familie. Und da meine Mutter nicht zu Lebzeiten in ihre Heimat zurückkehren konnte, möchte ich sie jetzt wenigstens nach dem Tod zurückbringen  – auf den Friedhof nach Wustrow, dorthin, wo auch ihre Eltern liegen und der Bruder, der beim Eissegeln ums Leben kam. Dann ist die Familie wieder vereint.

VERFOLGT UND VERHAFTET
    A ufgrund von Direktiven, die schließlich in das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 mündeten, sollten im besiegten Deutschland Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit geahndet werden. Ziel war, die Verantwortlichen für die Verbrechen des NS-Regimes zu verurteilen und Mittäter und Mitläufer an der Einflussnahme auf die deutsche Nachkriegsordnung zu hindern – eine Intention, deren moralische Legitimation von fast niemandem bestritten wurde.
    Die Umsetzung des Entnazifizierungsprogramms fiel im Osten und Westen Deutschlands jedoch sehr unterschiedlich aus. In der amerikanischen Zone wurden mit 117 500 Personen zunächst die meisten Verdächtigen interniert, keineswegs nur hohe Funktionsträger, sondern auch viele mittlere und kleine NS-Funktionäre und SS-Angehörige. Die Hälfte

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