Endlich wieder leben
waren inzwischen auch die Pässe für mich und meinen Bruder hinterlegt. Nach drei, vier Tagen flogen wir zu unserem Wohnsitz Hamburg. Andere Flüchtlinge mussten noch längere Zeit im Lager Marienfelde ausharren und den amerikanischen, französischen und britischen Geheimdiensten Rede und Antwort stehen,
bevor ihnen Dokumente ausgehändigt wurden, mit denen sie nach Westdeutschland ausfliegen konnten.
Fast alle Kapitänsfamilien aus Wustrow, Niehagen, Althagen und Ahrenshoop sind damals in den Westen gegangen, aus unserem Bekanntenkreis über zehn Familien. Geblieben ist meines Wissens nur die Familie von Joachim Gauck sen. Er saß zu jener Zeit in einem Lager in der sibirischen Steppe, da ihn ein sowjetisches Militärgericht zu zwei Mal 25 Jahren verurteilt hatte und kehrte erst 1955 zurück, als Konrad Adenauer die letzten Kriegs- und Zivilgefangenen aus der Sowjetunion frei bekam.
Für mich war es ein Glück, dass wir gegangen sind. Ich hätte in der DDR nicht das Gymnasium besuchen und nicht studieren können, denn mein Bruder und ich waren mit der evangelischen Kirche verbunden. Wir gingen zum Kindergottesdienst, wir sangen im Kirchenchor, wir hatten Religionsunterricht, und am Heiligabend führten wir unser Krippenspiel auf. Für uns stand absolut fest, dass wir nicht zur Jugendweihe gehen, sondern die Konfirmation feiern würden.
Zwar wurde ich in der Hamburger Schule zunächst als Flüchtling herablassend behandelt. Die Hochnäsigkeit im Westen war erheblich. Aber ich war frech und habe mir Hänseleien oder Zurückweisungen nicht gefallen lassen. Außerdem war mein Vater Kapitän, und wer in Hamburg einen Kapitän zum Vater hat, gehört in eine gehobene Klasse. Wir waren nicht in einer Nissenhütte untergebracht wie viele Vertriebene aus dem Osten und DDR-Flüchtlinge, wir hatten bald ein für damalige Verhältnisse schönes Reihenhaus in Hamburg-Rahlstedt. Mein Vater konnte uns Kinder in den Sommerferien auf seinem Schiff auch mitnehmen nach England, Dänemark, Frankreich und Finnland. Wer konnte damals als Schulkind schon solche Reisen machen?
Meine Mutter hat ihr Leben im Westen wie eine zeitweilige Emigration gesehen. Sie hat immer gesagt: »Die politischen Verhältnisse werden sich ändern. Irgendwann kann ich wieder nach Hause.« Der Hof war weiter ihr Eigentum. Im Grundbuch stand
mein Großvater, per Erbschein und Testament war sie die rechtmäßige Eigentümerin. Sie hatte den Großteil der Möbel im Haus gelassen und unser früheres Hausmädchen quasi als Verwalterin eingesetzt. Doch Ida wurde schnell ausgebootet. Als in Vorbereitung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Flüchtlinge aus dem Sudetenland und Polen auf die LPGs gebracht wurden, begann die Wohnungsbewirtschaftung. Erst wurde eine, dann eine zweite Flüchtlingsfamilie ins Haus zu Ida eingewiesen. 1959 musste Ida das Haus verlassen, sie wurde mit zwei Zimmern in Wustrow abgefunden. Als nach einigen Jahren die eine Flüchtlingsfamilie auszog, wurde deren Haushälfte von Herrn L. übernommen, einem DDR-Kapitän, der auch Politoffizier war und einen Ministeronkel hatte.
Dieser neue Mieter war, wie sich später herausstellen sollte, unser Unglück. Herr L. hatte gute Beziehungen und verfügte über Westgeld. Er ließ seine Haushälfte für DDR-Verhältnisse relativ gut renovieren und schrieb meiner Mutter 1976 einen Brief: Er wolle ihr das Haus gern abkaufen. Er wusste, eine so schöne Lage am Wasser würde er auf dem Fischland nicht noch einmal finden. Für meine Mutter war allerdings klar, dass sie das Haus auf keinen Fall verkaufen würde. »Sie können es gern nutzen«, schrieb sie zurück, »aber verkauft wird es nicht, das Haus ist seit Generationen Eigentum der Familie.«
Bald darauf begann sie, regelmäßig in ihre alte Heimat zurückzufahren. Sie war ins Rentenalter gekommen und konnte gegen den obligatorischen Mindestumtausch einreisen. Sie hatte Heimweh. Im Hochsommer waren die Ostseebäder zwar für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) oder den Kulturbund reserviert, da bekam sie keine Aufenthaltserlaubnis, aber außerhalb der Saison verbrachte sie immer mindestens eine Woche bei meiner Cousine in Wustrow, bei einem ehemaligen Hausmädchen in Ahrenshoop oder beim ehemaligen Nachbarn in Barnstorf. Sie traf sich auch mit alten Freundinnen, Kapitänsfrauen wie sie, die es ebenfalls in die Dörfer ihrer Kindheit und Jugend zurückzog. Sie schaute sogar regelmäßig bei den Mietern ihres Hauses in
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