Endlich wieder leben
ihren westdeutschen Ausweis, kaufte ein Flugticket – nur so konnte sie ohne Kontrolle durch die DDR-Behörden nach Westdeutschland kommen – und flog vom kurz zuvor wieder für die zivile Luftfahrt frei gegebenen
Tempelhofer Flughafen nach Hamburg. Auf der Rückreise verlief die Prozedur umgekehrt. Der westdeutsche Pass wurde wieder in der Berliner Pension hinterlegt, damit durfte sie in der DDR nicht erwischt werden.
Mein Vater war schnell zum Republikflüchtling erklärt worden. Wir hatten aber keine Nachteile dadurch, im Gegenteil. Der republikflüchtige Vater im Westen verschaffte uns im Osten große Vorteile. Mit seinem Westgeld konnte meine Mutter im Westen einkaufen. In dieser Hinsicht ging es uns besser als den meisten DDR-Bürgern. Ich hatte beispielsweise rote Schuhe mit weißen Kreppsohlen und Faber-Castell-Buntstifte, auf die alle Mitschüler neidisch waren. Meine Mutter kehrte auch jedes Mal mit größeren Mengen an Zigaretten und Nylonstrümpfen zurück, hoch begehrten Tauschobjekten im Osten. Dafür bekam man fast alles. Ich weiß nicht, wo sie die Sachen versteckte, aber sie ist in der Berliner S-Bahn oder im Zug nach Rostock niemals aufgeflogen. Dank der Westwaren erhielten wir wieder eine Nähmaschine, unsere alte war von den Russen konfisziert worden. Wir bekamen auch wieder eine Kuh und hatten niemals Probleme mit Handwerkern, wenn etwa das Dach repariert werden musste.
Wir lebten, als hätten wir in Barnstorf eine Zukunft. Ich habe nie den Eindruck gehabt, wir säßen auf gepackten Koffern. Erst nach dem Tod meines Großvaters begann meine Mutter, Sachen »rüber« zu bringen. Bei jeder Reise nahm sie möglichst viel Gepäck mit, und fast jeden Tag brachte sie ein Paket zur Post. Sie machte das, wenn wir Kinder in der Schule waren, so dass wir es nicht merkten. Dem Postbeamten in einem so kleinen Ort wie Wustrow war natürlich klar, dass jemand abhauen wollte, wenn er in kürzesten Abständen Riesenpakete in den Westen schickte. Doch weder meine Mutter noch andere sind verraten worden. Die Pakete wurden nicht einmal kontrolliert. Vielleicht war der Druck zur Kontrolle noch nicht so stark, vielleicht gab es auch eine Solidarität unter den Alteingesessenen. Jedenfalls wundere ich mich heute, was alles möglich war.
Bild 12
Das letzte Schlupfloch: Am einfachsten gelang die Flucht in Berlin, wo Zehntausende täglich die Übergänge von Ost nach West und umgekehrt passierten, um zur Arbeit zu gelangen. Weil die Flüchtlinge nicht auffallen wollten, verließen die meisten ihre Heimat nur mit Handgepäck. Im Westteil der Stadt führte der erste Weg in eines der Notaufnahmelager. Diese Frauen und Kinder streben im Januar 1953 in das Notaufnahmelager in der Kreuzberger Cuvrystraße.
Als wir die DDR in der Nacht vom 20. zum 21. Januar 1953 verließen, lag hoher Schnee. Der Mann aus Wustrow, der eines der ganz wenigen Autos besaß und quasi Taxifahrten durchführte, kam nicht zu unserem Hof durch. Da mussten wir unsere Koffer auf einen Schlitten laden und den Kilometer bis zum wartenden Auto ziehen – mein Bruder mit einem Rucksack, meine Mutter mit einem Rucksack und ich mit einem Rucksack. Ich erinnere mich: Meine Mutter war ziemlich schroff und blickte einfach nur stur geradeaus. Sie hat sich nicht ein einziges Mal umgedreht, nicht ein einziges Mal. Später, als ich erwachsen war, habe ich gedacht: Wie konsequent sie war!
In Rostock verließen wir das Auto in einer Seitenstraße und gingen die letzten Meter zu Fuß. Das werde ich nie vergessen: Wir kamen auf einen hell erleuchteten Bahnhofsvorplatz, zu dem Hunderte von Menschen aus allen Himmelsrichtungen strömten. Alle schwer bepackt, alle zum Zug, der um Mitternacht von Rostock nach Ost-Berlin fuhr. Wir hätten alle wegen Republikflucht verhaftet werden können. Aber nichts geschah. Weder auf dem Rostocker Bahnhof noch im völlig überfüllten Zug, auch nicht auf dem düsteren, noch schrecklich zerstörten Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin, wo die Massen auf den Bahnsteig hasteten, von dem die Züge Richtung Westen fuhren.
In die erste Bahn kamen wir gar nicht hinein. Die war rappelvoll. Die nächste Bahn nahm uns mit. Nach kurzer Fahrt sagte meine Mutter: »Jetzt sind wir im Westen.« Der U-Bahnhof war hell erleuchtet, ein Kiosk war geöffnet, man konnte mitten in der Nacht Kaffee kaufen und Zeitungen und alles Mögliche. Meine Mutter kaufte uns Schokolade.
Zwischen den U-Bahnstationen lagen Welten! In der West-Berliner Pension
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