Endlich wieder leben
dem Verlies, in einem eigenen Holzverschlag. Jeden Morgen hörte sie die Schläge, mit denen ihr Mann zu einem Geständnis erpresst werden sollte. Bei der Gerichtsverhandlung vor dem Sowjetischen Militärtribunal (SMT) in Berlin-Lichtenberg sah sie ihn noch einmal (ohne mit ihm sprechen zu dürfen); bis zum nächsten Wiedersehen sollten zehn Jahre vergehen.
Obwohl sie bei ihrer Verhaftung bereits schwanger war, kam Christa-Maria Kirchner in das Speziallager Nr. 7 (später Nr. 1) nach Sachsenhausen, eines von insgesamt zehn Speziallagern des sowjetischen Geheimdienstes NKWD auf dem Gebiet der SBZ. Im Fall von
Buchenwald und Sachsenhausen wurden einfach die ehemaligen Konzentrationslager weiter genutzt.
Die übergroße Mehrheit der mindestens 122 671 deutschen Insassen 81 war wie Christa-Maria Kirchner interniert ohne Anklage und Urteil; nur etwa ein Viertel (rund 35 000) war verurteilt nach Prozessen vor den Sowjetischen Militärtribunalen. 82 Anders als in den Straflagern in der Sowjetunion wurden die Häftlinge in den Speziallagern nicht zur Arbeit herangezogen. Christa-Maria Kirchner nutzte die erzwungene Untätigkeit, indem sie sich, so gut es ging, um ihre Tochter kümmerte, die sie am 19. November 1946 in Sachsenhausen zur Welt gebracht hatte. Sie arbeitete Kleidungsstücke von Verstorbenen mit Nähnadeln aus Draht um und strickte mit Fahrradspeichen aus den Wollfäden der Zuckersäcke in der Lagerküche ein Jäckchen. Bärbel überlebte, obwohl sie täglich gerade so viel Milch erhielt, wie in ein Schnapsglas hineingepasst hätte, und später wie die Erwachsenen mit dünner Grütz- und Kartoffelsuppe auskommen musste. Von Amts wegen existierte diese Tochter zunächst gar nicht. Bei der Freilassung Anfang 1950 bestand Christa-Maria Kirchner darauf, ihre inzwischen dreijährige Tochter wenigstens auf dem Entlassungsschein zu vermerken. Als später eine Geburtsurkunde ausgestellt wurde, trugen die DDR-Behörden als Geburtsort Oranienburg ein; vom Lager Sachsenhausen sollte die Öffentlichkeit nichts erfahren. Christa-Maria Kirchner zählte zu den letzten »Internierten«, die entlassen wurden. Sieben Speziallager waren bereits im Herbst 1948 geschlossen worden, die restlichen – Sachsenhausen, Buchenwald und Bautzen – wurden Anfang 1950 aufgelöst.
Nach offiziellen Angaben russischer Behörden sind 43 o35 Personen in den Speziallagern verstorben, etwa jeder Dritte. Die Häftlinge starben aufgrund von Hunger – so stieg die Zahl der Toten 1946/47 sprunghaft nach Kürzung der täglichen Rationen – und aufgrund von lagertypischen Krankheiten wie Dystrophie, Ruhr, Tuberkulose und Typhus. 83 Von den 60 000 Häftlingen in Sachsenhausen haben mindestens 12 000 nicht überlebt. Nach 1990 wurden 28 Massengräber entdeckt.
Christa-Marias Mann Horst Kirchner saß noch sechs Jahre länger als seine Frau. Nach der Verurteilung zu zwanzig Jahren Zuchthaus wurde er in das »gelbe Elend« eingeliefert, das berüchtigte Zuchthaus im sächsischen Bautzen. Nach der Schließung von Bautzen als sowjetischem Speziallager gelangte er in DDR-Gewahrsam. Andere Häftlinge kamen zur weiteren Strafverbüßung in Straflager in der Sowjetunion.
Besonders hart verfolgt wurden Kontakte zur 1948 gegründeten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) in West-Berlin, zum Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen, zum West-Berliner Sender RIAS und zu den Ostbüros der westdeutschen Parteien. Im Oktober 1950 wurden beispielsweise Herbert Belter und neun seiner Kommilitonen in Leipzig verhaftet, weil sie neben eigenen Flugblättern auch Schriften des RIAS gegen die Volkskammerwahlen verteilt hatten. Acht Mitglieder der Gruppe wurden vom Sowjetischen Militärtribunal am 20. Januar 1951 in Dresden zu zehn bis fünfzig Jahren Zwangsarbeit, Belter wegen Spionage, Aufbau einer konterrevolutionären Gruppe und Verbreitung antisowjetischer Literatur zum Tod durch Erschießen verurteilt. Die Vollstreckung erfolgte am 28. April 1951 im Butyrka-Gefängnis in Moskau.
Unter besonderer Beobachtung des NKWD standen unabhängige politische Geister bis in die Reihen der Kommunisten. 194 SED-Mitglieder, 57 Mitglieder der CDU und 71 Mitglieder der Liberal-Demokratische Partei sind zwischen 1950 und 1955 in Moskau hingerichtet worden, unter ihnen Arno Esch aus Rostock, einer der profiliertesten Vertreter der studentischen Opposition, der die Wiedervereinigung in einem freiheitlichen, demokratischen Staat angestrebt hatte. Eschs Verhängnis
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