Endlich wieder leben
DDR-Strafvollzug, von denen sechzig die Haft infolge von Misshandlung, Krankheit, Unterernährung oder hohem Alter nicht überlebten.
Anfang 1953 folgte ein gezielter Angriff auf die Jugend in der evangelischen Kirche. Zeitungen attackierten die 125 000 Mitglieder zählende Junge Gemeinde als »Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage, die von westdeutschen und amerikanischen imperialistischen Kräften dirigiert wird«. Ihre Aktivisten, so Parteichef Walter Ulbricht, gehörten zu den ärgsten konterrevolutionären Kräften: »Sie sind Anhänger der Nato und des Klerikalismus. Sozialdemokratische Funktionäre sind oft feige, aber die von der ›Jungen Gemeinde‹ sind fanatisch. Sie sterben für Gott und Adenauer.« Die Junge Gemeinde wurde auch verantwortlich dafür gemacht, dass sehr viele Jugendliche den Dienst mit der Waffe in der Kasernierten Volkspolizei ablehnten.
Fünfzig kirchliche Mitarbeiter wurden verhaftet, 300 Schüler und Studenten relegiert, weil sie sich nicht von der Jungen Gemeinde und den Evangelischen Studentengemeinden lossagten. An der John-Brinkman-Oberschule im mecklenburgischen Güstrow traf es zwei Schülerinnen und einen Schüler. 87 »Da wurden die Schüler zu einer Schulversammlung in die Aula geladen«, so Helmut Zeddies, einer der Betroffenen. »Es hieß, es sei eine Gedenkveranstaltung aus Anlass von Stalins Tod.« Doch die Schüler hörten nicht Trauerreden auf den verstorbenen großen Führer der Sowjetunion, sondern Anklagen gegen die »verbrecherische, illegale« Junge Gemeinde: Es sei endlich an der Zeit, wirksame Maßnahmen gegen die Rädelsführer zu ergreifen.
Mehrheitlich bestätigte die Schülerversammlung, was die Lehrerkonferenz bereits zuvor entschieden hatte. Noch am selben Tag hatte Zeddies mit den beiden Schülerinnen die Schule zu verlassen. »Mit sechzehn Jahren«, erklärte Zeddies im Nachhinein, »stellt man sich noch nicht die Frage, ob man ein Märtyrer sein will. Man tut, was man meint, tun zu müssen. Ich habe an das Gefängnis erst gedacht, als ich von der Schule geflogen bin.« Die drei Relegierten mussten ihre Personalausweise abgeben und sich regelmäßig bei der Polizei melden, und sie durften die Stadt nicht verlassen. Wenn Zeddies seine ebenfalls von der Schule verwiesene Freundin besuchte,
»hatten wir in der ersten Zeit ganz deutlich Begleitung mit den Limousinen, diesen BMW oder EMW, wie sie genannt wurden. Das waren mit Vorliebe Stasi-Fahrzeuge, die ganz auffällig hinter uns herfuhren, um uns mürbe zu machen.« Als Zeddies aus zuverlässiger Quelle die Nachricht von seiner unmittelbar bevorstehenden Verhaftung erhielt, dachte er kurz an Flucht. Aber er floh nicht, denn das »wäre Wasser auf die Mühlen derer gewesen, die gesagt haben, die Junge Gemeinde ist eine vom Westen gesteuerte Organisation«. Glücklicherweise kam er nicht ins Gefängnis, weil der von Moskau angeordnete »Neue Kurs« die SED zum Einlenken zwang. Bei einem Treffen von führenden Vertretern der EKD und der DDR-Regierung wurden Schulverweise und Relegationen aufgehoben, beschlagnahmte kirchliche Einrichtungen zurückgegeben und entlassene kirchliche Lehrer wieder eingestellt. Helmut Zeddies kehrte nach acht Wochen zurück an die John-Brinkman-Oberschule und konnte mit jenen, die im ersten Anlauf durchgefallen waren, sogar noch sein Abitur nachholen.
Nutznießer des »Neuen Kurses« waren auch knapp 24 000 Häftlinge, die bis Ende 1953 vorzeitig aus der Haft entlassen wurden. Die Gefängnisse leerten sich, obwohl nach den massenhaften Streiks, Demonstrationen und Protesten am 17. Juni 1953 neue Häftlinge eingeliefert worden waren. Gemessen an der früheren Praxis fielen die Urteile nach dem Volksaufstand relativ moderat aus, weil die DDR-Führung den Justizfunktionären als allgemeine strafpolitische Linie aufgetragen hatte, »mit größter Sorgfalt zu unterscheiden zwischen den ehrlichen, um ihre Interessen besorgten Werktätigen, die zeitweise den Provokateuren Gehör schenkten, und den Provokateuren selber«. Aus dem Bericht der Justizministerin Hilde Benjamin und des Generalstaatsanwalts Ernst Melsheimer für das Politbüro geht hervor, dass nur etwa ein Viertel der 5583 Ermittlungsverfahren gegen die »Rädelsführer« bei Streiks und Demonstrationen mit einer Verurteilung endeten. Zwei von 1526 »Provokateuren des Putsches« wurden zum Tode verurteilt, gut die Hälfte erhielt zwischen einem und fünf Jahren Haft.
Bild 13
Mit Repression gegen die
Weitere Kostenlose Bücher