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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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    Ich wurde der Mitwisserschaft illegalen Waffenbesitzes angeklagt. Angeblich, so erfuhr ich beim ersten Verhör, besaß mein Verlobter eine Waffe und Munition. Doch wie konnte ich etwas gestehen, von dem ich keine Ahnung hatte? Selbst wenn sich auf dem Dachboden im Haus meines Verlobten eine verrostete Waffe aus dem Ersten Weltkrieg befunden haben sollte, so hatte ich davon keine Ahnung. Außerdem war ich mir sicher, dass mein Verlobter keine Untergrundtätigkeit vorbereitet hatte. Ich hatte ihn während der Arbeit im Ausbesserungswerk kennen gelernt, er war ein völlig unpolitischer Mensch. Ich hätte nichts von einer Waffe gewusst, erklärte ich dem Vernehmungsoffizier wahrheitsgemäß, außerdem wäre eine Waffe für meinen Verlobten nicht von Interesse gewesen.
    Eine Zeit der Zermürbung begann. Morgens um sechs Uhr ging in meiner Einzelzelle das Licht an, der Kübel wurde rausgeholt, die kleine Schüssel mit dem Waschwasser blieb meistens stehen. Ich hatte keine Seife, keine Zahnpasta, kein Handtuch. Die Zähne rieb ich mir mit dem Zeigefinger ab. Zum Abtrocknen benutzte ich die Fußlappen aus den Holzpantoffeln, in den Schuhen lief ich barfuß. Ich habe gestunken, ich konnte mich selber nicht mehr riechen. Und ich litt ständig unter Schlafmangel.
    Das Bett musste tagsüber hochgeklappt werden, es war verboten, sich zu setzen. Ich stand oder lief von einer Zellenwand zur anderen, hin und zurück, hin und zurück. Nachts konnte ich ebenfalls kaum schlafen. Denn wenn ich gerade auf dem harten Strohsack eingenickt
war, wurde ich abgeholt zum Verhör, manchmal zwei Mal in einer Nacht.
    Dann saß ich auf einem Melkschemel mit nur einem Bein und musste die Balance halten; bei jedem Wackeln brüllte mich der Vernehmungsoffizier an. Er saß schräg gegenüber hinter einem Schreibtisch, vor ihm standen gut sichtbar eine Flasche Saft und eine Schale mit Obst. Ich, die ich nur Brot und dünne Graupen- oder Weißkohlsuppen erhielt, in denen manchmal Maden schwammen, wäre sofort mit Äpfeln und Birnen belohnt worden, wenn ich gesagt hätte, dass mein Verlobter eine Waffe und Munition besessen hat. Doch ich wiederholte Nacht für Nacht dasselbe: Dass ich nichts gewusst hätte. Dass ich nicht daran glauben würde, dass mein Verlobter mit der Waffe etwas zu tun hatte.
    Ich spürte, wie es mir immer schwerer fiel, auf dem Melkschemel das Gleichgewicht zu halten. Außerdem blieb die Regel im Februar und März aus. »Ich glaube, ich bin schwanger. Wäre es möglich, einen anderen Stuhl zu bekommen?«, fragte ich den Vernehmungsoffizier. Doch er reagierte nur mit einer höhnischen Gegenfrage: Ob ich mir bessere Bedingungen erschleichen wolle?
    Ich kam in eine Wasserzelle, einen stockdunklen, steinernen Raum im Keller, der etwa die Größe einer Telefonzelle hatte. In voller Anstaltskleidung musste ich in eine Vertiefung steigen, in der eiskaltes Wasser aus kleinen Löchern im Boden drang und Zentimeter um Zentimeter die Beine emporkroch. In meiner Fantasie sah ich mich schon ertrinken. Als das Wasser bei den Knien stand, hörte die Zufuhr jedoch auf. Minutenlang geschah nichts. Irgendwann floss das Wasser, das sich durch Körperwärme und Urin etwas erwärmt hatte, wieder ab und wurde durch neues, kaltes Wasser ersetzt. Diese Prozedur wiederholte sich drei Mal. Ich weiß nicht, ob ich eine Stunde oder mehrere Stunden in der Zelle stand. Ich verlor vollständig das Zeitgefühl. Ein paar Mal bin ich ohnmächtig geworden, bin an der rauen Steinwand hinuntergerutscht und nass geworden bis zum Hals. Ich zitterte vor Kälte. Aber ich habe nicht geschrien und nicht geweint. Ich habe gedacht: Du hältst das aus. Du
stehst das durch. Und ich wiederholte bei der nächsten Vernehmung, was ich bereits Dutzende Male erklärt hatte: Dass ich nichts gewusst hätte. Dass ich nicht daran glauben würde, dass mein Verlobter mit der Waffe etwas zu tun hatte.
    Irgendwann hörte ich, wie der Vernehmungsoffizier dem Schließer zuraunte: »Die sagt nichts. Mach’ endlich was!« Der Schließer wusste offensichtlich, was gemeint war. Als wir vor meiner Zelle standen, fasste er mit der rechten Hand in meine Haare und stieß mich mit der linken gewaltsam in die Zelle. Ich spürte nur kurz den Schmerz, als er mir ein ganzes Haarbüschel ausriss, dann stürzte ich kopfüber auf die hochgeklappte eiserne Bettkante. Die Haut an der Stirn platzte auf, mein Gesicht, die Anstaltskleidung, das ganze Bett, alles war blutig. Ich schlug gegen die Tür und

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