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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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verlangte nach einem Arzt. Aber nichts rührte sich. Stattdessen bekam der Schließer am nächsten Morgen einen Wutanfall: »Du politische Sau! Du willst schwanger sein? Woher kommt denn das ganze Blut?« Immerhin wurde ich nun doch zum Gefängnisarzt geführt. Er nähte die Wunde ohne Betäubung und so schlecht, dass sie nach einigen Tagen zu eitern begann und sich wildes Fleisch bildete. Ich kam in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Der Arzt zog die alten Fäden heraus, schnitt das wilde Fleisch ringsum weg und nähte noch einmal, was schwierig war, da sich die Haut nicht mehr ausreichend zusammenziehen ließ. Die Narbe an meiner Stirn ist bis heute zu sehen. Als ich auf die Frage des Arztes nach meinem Befinden erklärte, ich sei wahrscheinlich schwanger, brüllte der Wachtmeister sofort, mir sei das Reden verboten. Aber seitdem erhielt ich zusätzlich zu meiner Graupen-oder Weißkohlsuppe täglich einen halben Liter Milch.
    Aufgrund der Schwangerschaft habe ich keinen Rabbatz gemacht. Ich wollte das Kind nicht gefährden. Ich hatte Angst, es könnte durch die nächtlichen Verhöre und die Wasserzelle behindert sein. Tatsächlich wurde ich nach dem dritten Monat nicht mehr in die Wasserzelle geschickt, die Verhöre allerdings liefen weiter.
    Am 15. Mai 1953 fand die Verhandlung vor dem Bezirksgericht Leipzig statt. Im Gerichtssaal sah ich meinen Verlobten zum ersten
Mal nach fast vier Monaten wieder. Ich hatte weder erfahren, dass er verhaftet worden war, noch wo er gesessen hatte. Er war furchtbar abgemagert. Am schrecklichsten aber war, dass wir nicht einmal ein paar Worte austauschen konnten. Zwischen uns saß das Wachpersonal. Sogar Blickkontakt war nicht möglich, anfassen konnte ich ihn erst recht nicht. Aber er sah, dass ich schwanger war.
    Die Verhandlung dauerte nicht einmal eine halbe Stunde. Außer mir sollte auch der Freund meines Verlobten von der Waffe gewusst haben. Wir durften alle drei nichts sagen, es wurde einfach über uns befunden. Der Richter verließ vor der Urteilsverkündung nicht einmal den Saal.
    Ich erhielt zwei Jahre Haft wegen Mitwisserschaft illegalen Waffenbesitzes und drei Jahre wegen »Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte« über das DDR-Volk. Irgendwann hatten sie bei den Verhören nämlich nicht mehr nach der Waffe gefragt, sondern mich beschuldigt, im Gefängnis gegen die DDR agitiert zu haben. Dieser zweite Anklagepunkt war genauso absurd und willkürlich wie der erste. Denn wen hätte ich agitieren sollen? Vom ersten Tag meiner Haft im Stasi-Knast bis zur Verhandlung hatte ich in einer Einzelzelle gesessen. Dafür, dass ich die Anklage wegen Agitation im Verhör eine Lüge genannt hatte, erhielt ich gleich noch ein halbes Jahr Strafe mehr. Schließlich wurde alles zu fünf Jahren zusammengezogen. Mein Verlobter und sein Freund erhielten jeweils zehn Jahre.
    Als ich zurück war in der Zelle, habe ich geweint und geweint, das erste Mal im Gefängnis.
    Mein Verteidiger legte zwar noch Berufung ein; doch bei einer Verhandlung im Juni wurde das Urteil bestätigt.
    In die Zeit zwischen den beiden Verhandlungen fiel der 17. Juni. Ich hörte plötzlich Lärm und sah durch einen Spalt in der Holzblende vor meinem Fenster, wie das Tor der Haftanstalt aufgebrochen wurde. Der Erste, der in den Gefängnisinnenhof stürzte, muss wohl ein Fleischer gewesen sein, er trug jedenfalls eine blutige weiße Schürze. Das jagte mir einen gewaltigen Schrecken ein. Nun glaubte
ich tatsächlich, was die Wachtmeister auf den Gängen schrien: »Jetzt seid ihr dran! Die bringen euch um!«
    Die aufgebrachte Menge eroberte den Bürotrakt. Ich hörte, wie Gegenstände auf den Hof flogen. In den Häftlingstrakt gelangten die Protestierer durch die vielen Gittertüren aber nicht. Damals dachte ich: Gott sei Dank! Ich kauerte in der Ecke meiner Zelle und hielt den Bauch umschlungen, um mein Kind zu schützen. Ich hatte schreckliche Angst. Ich glaubte wirklich, sie wollten uns umbringen, weil wir gegen die DDR gekämpft hätten. Dabei hätte ich Hoffnung haben können: Sie wollten uns doch befreien.
    Der 17. Juni ist mir umso nachdrücklicher im Gedächtnis geblieben, als ich später erfuhr, dass meine Mutter ebenfalls auf die Straße gegangen war. Sie hatte zu den Demonstranten gehört, die in meiner Heimatstadt Delitzsch zum Volkspolizeikreisamt gezogen waren und die Freilassung der Gefangenen gefordert hatten. Zwei junge Arbeiter kamen um, als damals vom oberen Stockwerk des Polizeigebäudes

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