Endlich wieder leben
Ich habe sehr lange gebraucht, um halbwegs – halbwegs! – das Vertrauen meiner Schwiegermutter zu gewinnen. Damals
begriff ich nicht, dass ihr Sohn für diese traumatisierte Frau in der neuen Umgebung die einzige Bezugsperson war, und auf einmal nahm ich ihn ihr weg. Unsere Ehe hat eigentlich erst richtig begonnen, als meine Schwiegermutter eine eigene Wohnung bekam.
Zu den innerfamiliären Problemen kamen die politischen. Als ich etwa im fünften Monat schwanger war, klingelte es eines Tages an der Haustür. Da stand eine Frau, die unter Schluchzen und Weinen anfing, mich zu beschimpfen und das Kind in meinem Bauch zu verfluchen. Es handelte sich um die ehemalige Hausbesitzerin, eine Schneiderin. Sie hatte das Haus räumen müssen, als Genossen wie Wolfgang plötzlich von West-Berlin umzogen. Weil noch große Wohnungsnot herrschte, war das Problem fehlenden Wohnraums teilweise kurzerhand durch Enteignungen so genannter Wirtschaftsverbrecher gelöst worden. Solche gab es natürlich. Meist handelte es sich bei den Enteigneten aber einfach um Leute, die ihre Steuer hinterzogen hatten. Wir, die wir nichtsahnend eingezogen waren, beschlossen, so schnell wie möglich wieder auszuziehen. Als wir 1954 durch einen Zufall eine neue Wohnung fanden, konnte die Schneiderin zurück in ihr Haus. Aufgrund des »Neuen Kurses« nach dem 17. Juni 1953 erhielten enteignete Bürger, wenn nichts Ernstes gegen sie vorlag, ihr Grundeigentum zurück.
Ende 1952 hatte die Verfolgung jüdischer Ärzte in der UdSSR begonnen, angeblichen Spionen des amerikanischen Geheimdienstes, denen unterstellt wurde, die Vergiftung von führenden Politikern und Militärs geplant zu haben. Hunderte wurden entlassen, verhaftet, in Lager geschickt oder hingerichtet. Als Rudolf Slánský im Dezember 1952 in Prag erhängt wurde, waren wir gerade zu Besuch bei einer Freundin in Weimar. Ich sah, wie sie bei der Zeitungslektüre am Frühstückstisch erschrak. Sie war Jüdin. Und mein Mann hatte eine jüdische Mutter. »Ich bin ›Mampe halb und halb‹«, pflegte er zu sagen, und meinte damit: er sei Deutscher und Halbjude. Wir waren alle drei sehr bedrückt und hatten große Mühe, unsere Betroffenheit mit dem üblichen Trost zu unterdrücken, dass sich bald alles aufklären werde.
Ja, es gab eine dumpfe Angst, dass auch in der DDR solche Prozesse stattfinden könnten. In unserem Alltag spielte das Jüdische zwar keine Rolle. Bei uns und anderen jüdischen Genossen und Nicht-Genossen, die wir kannten, wurden weder der Sabbat noch die jüdischen Festtage gefeiert. Außer bei der Anerkennung als Verfolgter des Nazi-Regimes war die jüdische Abstammung administrativ bedeutungslos. Diese Betrachtungsweise fand ich überzeugend. Ich hatte Marx in der Judenfrage so verstanden, dass der Antisemitismus verschwinden würde, wenn für eine aufgeklärte Menschheit Rasse, Religion, Hautfarbe und Herkunft keine Geltung als diskriminierende oder privilegierende Kriterien mehr haben würden.
Die Intellektuellen aus jüdischer Tradition in der DDR waren häufig links. Misstrauen und Abneigung gegen Juden waren jahrhundertelang im handfesten Interesse der staatlichen wie kirchlichen Institutionen erfolgreich geschürt und genutzt worden, man hatte sie als die Schuldigen an gesellschaftlichen Missständen, Armut, Krankheit, Bränden und Nöten aller Art hingestellt. Die tiefen Wurzeln dieser Tradition wirkten oft unbewusst noch fort; die Angst vor der Möglichkeit eines neuen Antisemitismus war auch bei Wolfgang nicht gebannt. Dazu hatte er auch persönlich zu viel erlebt. Die Trauer seiner Mutter – eine Schwester hatte noch vom Transport eine Karte geschrieben und war dann in Theresienstadt umgekommen. Seine eigene Diskriminierung – er und sein Bruder waren als »jüdische Mischlinge« im letzten Kriegsjahr in einem Arbeitslager der Organisation Todt in Zerbst interniert gewesen. Beide hatten an einem Militärflugplatz mitgebaut, der immer, wenn er fast fertig war, wieder zerbombt wurde.
In unserer unmittelbaren Umgebung erlebten wir nun, wie etwa Bruno Goldhammer, der Intendant vom Berliner Rundfunk, wegen »Agententätigkeit« zu Zuchthaus verurteilt wurde. Es gab keine Beschuldigung wegen speziell jüdischer Agententätigkeit, ein rassistischer Zusammenhang wurde in diesem Fall nicht hergestellt. Aber die Verurteilungen des Zionismus, der in den Lexika der DDR als vor allem von den imperialistischen USA geförderte internationale
Bewegung des jüdischen
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