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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Arbeiterklasse habe zum Faschismus geführt; vereint könnten die beiden Parteien mit Sicherheit den Sozialismus erstreiten. Das hat mich überzeugt, es gab kein Argument gegen seine historische Erfahrung.
    Als Kind einer nicht begüterten antifaschistischen Familie hatte ich in der Sowjetisch Besetzten Zone Aussicht auf ein Stipendium, das an gute Studienleistungen gebunden war. Zuvor holte ich in einem speziell eingerichteten Jahreskurs das Abitur nach. Meine Klassenkameraden kamen aus Lazaretten, aus der russischen Gefangenschaft, von den Flüchtlingstrecks; sie waren Kriegsversehrte, Flak-und Nachrichtenhelferinnen. Der Älteste war 27, die jüngste siebzehn Jahre alt. Einige mussten sich selbst durchbringen und betrieben Schwarzhandel: Zigaretten, Interzonenpässe, Nylonstrümpfe, alles
war zu haben. Als einziges SED-Mitglied in der Klasse hatte ich allerdings wieder keine Gruppe, der ich mich zugehörig fühlte. Doch anders als zur NS-Zeit musste ich nicht mehr schweigen. Für die Wochenzeitung Start verfasste ich eine Skizze über den Freund meines Bruders, der wegen Befehlsverweigerung erschossen worden war. Nun schwiegen andere, vor allem die Männer. In ihren Augen hatte ich einen Deserteur zum Helden gemacht.
    Im Oktober 1947 begann mein Studium an der Leipziger Universität. Eigentlich wollte ich Journalistik studieren, denn ich sah mich – meine Neigung für mein Talent haltend – als künftige Schriftstellerin. Aber für Journalistik hätte ich auch Betriebswirtschaft studieren müssen. Daher wechselte ich zur Germanistik, allerdings ohne pädagogische Fächer. Geschichte und Philosophie wurden meine Nebenfächer. Ich wünschte mir eine Presse- oder Verlagsarbeit.
    Zu meinen Professoren zählte der Romanist Werner Krauss, der der Roten Kapelle angehört hatte und von den Nazis zum Tode verurteilt worden war. Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil gehörten auch Ernst Bloch und später Hans Mayer zu meinen Lehrern. 147 Ich habe die Umwandlung der alten bürgerlichen Universität in eine – wie wir später mit leisem Spott sagten – »Kaderschmiede« als äußerst positiv empfunden. Eine Reihe bekannter Wissenschaftler und Autoren ging aus ihr hervor, unter anderen die Schriftsteller Christa Wolf, Uwe Johnson und Gerhard Zwerenz, auch der Regisseur Egon Günther.
    Manchmal gab es allerdings auch Fragwürdiges. Zum Beispiel wurde der Vorsitzende unseres Studentenrates und der Liberaldemokratischen Hochschulgruppe Wolfgang Natonek im November 1948 zusammen mit zwanzig weiteren Studenten vom NKWD festgenommen. Er war bei vielen Studenten sehr angesehen, vor allem unter den Juristen, die während des Krieges ihr Studium nicht hatten beenden können und nun ohne die sonst angewandten Herkunftsrestriktionen aufgenommen wurden. Damals stieß ich im Dekanat auf eine weinende Frau, die Mutter eines der verhafteten Studenten, die versuchte, etwas über ihren Sohn zu erfahren. Es war ein bedrückendes
Erlebnis, aber ich beschwichtigte mich mit den Zeitungsberichten. Wenn wirklich zutraf, dass Natonek und die anderen Kommilitonen sich mit amerikanischen Offizieren getroffen und ihnen Informationen übermittelt hatten, war ihre Verhaftung in meinen Augen gerechtfertigt. Freilich wünschte ich, man hätte die Eltern nicht ohne Nachricht vom Verbleib ihrer Kinder gelassen. Aber konnte man nicht auch verstehen, dass die Sieger nach dem, was der Sowjetunion an Unrecht widerfahren war, auf vermutete Gefahren rücksichts- und gnadenlos reagierten? 148
    Wir waren damals geneigt, derartige Vorgänge zu verdrängen und rechtfertigten uns vor uns selbst: Es sind die Verhältnisse, die so schwierig sind. Mit denselben Leuten, die den Nazis nachgelaufen sind, müssen wir den Sozialismus aufbauen.
    Anders als die Westdeutschen, so scheint mir heute, sahen wir uns mehr mitschuldig am Krieg denn als dessen Opfer und akzeptierten die Folgen wie das bleibende Misstrauen anderer Staaten, die großen Reparationsleistungen und die neue deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiße. Als die Sowjetunion vom Siegerstaat mehr und mehr zu unserem stärksten Verbündeten wurde, standen wir schließlich an ihrer Seite und mutierten in dieser Rolle zu »Siegern der Geschichte«.
    Doch es war die Zeit des Kalten Krieges. In der unmittelbaren Nachbarschaft zur Bundesrepublik als Bastion des Westens lebten wir im Gefühl ständiger Bedrohung und wurden immer wieder zur Wachsamkeit aufgerufen. Die traumatische Angst vor einem Auseinanderbrechen des

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