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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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sozialistischen »Lagers« wuchs sich dabei in verhängnisvoller Weise zu einer Schreckkulisse aus und verselbstständigte sich. Eine arglose Frage, ein sachlicher Einwand gegen eine staatliche Maßnahme oder die Verteidigung eines von der Parteispitze missbilligten Kunstwerks wurden als Abweichung, als Schützenhilfe für den Klassenfeind, als Verlassen des Klassenstandpunkts gedeutet. Die kollektive Weisheit des Politbüros anzuzweifeln, wurde als Revisionismus, Eklektizismus, Kosmopolitismus und so weiter verurteilt, das gute Prinzip der sozialistischen Kritik und
Selbstkritik konnte als Instrument der Denunziation missbraucht werden. Anfangs hatte ich mehr Zuversicht besessen und eine baldige Besserung des internationalen Klimas erwartet. Nun erlebte ich, deprimiert, wie in den Versammlungen offizielle Phrasen wiederholt und Stroh gedroschen wurde.
    Dann machte ich aber eine Erfahrung, die mich wieder in meiner grundsätzlichen Überzeugung von der Zukunft des Sozialismus bestärkte. Weil es noch an Lehrkräften an den Universitäten und den neu geschaffenen Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF) mangelte, wurden Studenten aus den oberen Semestern abgezogen und von der Partei als »wissenschaftlicher Nachwuchs« in Sonderkurse delegiert. Innerhalb kurzer Zeit sollten marxistische Grundlagen der deutschen Literaturgeschichte, vor allem des 18. Jahrhunderts, erarbeitet und entsprechende neue Lehrpläne entwickelt werden. So nahm ich von Herbst 1951 bis Frühjahr 1952 an dem inzwischen legendären Germanistenkurs bei Gerhard Scholz in Weimar teil.
    Scholz hatte seit 1938 im schwedischen Exil gelebt. Nach seiner Rückkehr war er 1949 zum Direktor des Goethe-Schiller-Archivs 149 in Weimar berufen worden. Zur Neuordnung des Archivs und zur Bewältigung der vielfältigen politischen wie ökonomischen Nachkriegshürden war der leidenschaftliche Forscher und begnadete Pädagoge wenig geeignet. Als kreativer Lehrer für vierzig junge Literaturwissenschaftler hingegen war er wunderbar. Ein Ideengeber, ein Anreger, ein unkonventioneller Kopf, der freundschaftlich und mitteilsam war. Sicher verklärt sich mir heute manches, aber der Lehrgang war damals einzigartig in der DDR, ein Beispiel für neue, unkonventionelle Formen demokratischer Forschung und Erziehung.
    In der Villa »Silberblick« in der Humboldtstraße, wo Nietzsche zuletzt gelebt hatte, tagten die Arbeitsgruppen. Bis auf Nietzsches Sterbezimmer und den Salon im Erdgeschoss war das Haus geräumt worden. Die Arbeitsgruppenleiter wohnten hier, die Studenten zum Teil in einer Pension, in Privatquartieren, einige auch in notdürftig hergerichteten Räumen im Erdgeschoss des Weimarer Schlosses. Dort schliefen wir in rohen Holzgestellen mit strohsackähnlichen
Matratzen, die wohl aus ehemaligen Luftschutzkellern stammten.
    Für die braven und noch kriegsverstörten Einwohner von Weimar waren wir eine wilde Kommunistenbande, nicht nur, weil wir direkt neben den wertvollen Handschriften von Goethe und Schiller frühstückten und Papirossy rauchten, sondern auch andere Regeln eines geziemenden Wohlverhaltens brachen. Wir waren zur Hälfte Frauen und genossen unsere neue Freiheit, die damals übrigens größer als später war. In der Frauenemanzipation waren wir Westdeutschland voraus. Wer verheiratet war, war verheiratet, aber ein Seitensprung war kein Verbrechen. Wir haben nicht viel geschlafen, standen morgens aber trotzdem früh auf der Matte und arbeiteten den ganzen Tag mit Lust und Eifer. Sowjetische Sekundärliteratur und die Parteipresse waren Pflichtlektüre. Im Übrigen aber fühlten wir uns frei zu selbstständigem Erkunden. Wir waren kreativ, lasen auch wenig bekannte Quellen, übrigens auch »bürgerliche« Sekundärliteratur, denn marxistische war ja kaum vorhanden. Franz Mehrings Lessing – Legende , ein 1948 erschienener dicker Band mit ausgewählten Texten von Marx und Engels über Kunst und Literatur, und Schriften des ungarischen Philosophen Georg Lukács waren unsere Grundversorgung.
    Unser Kurs gefiel den Auftraggebern nicht. Bei den Prüfungen ließ man uns auflaufen. Wir wurden über Dinge befragt, über die wir gar nicht gearbeitet hatten. Ich sollte Kubas (Kurt Barthels) »Gedicht vom Menschen« interpretieren, das ich zwar gelesen hatte, aber wirklich beschäftigt hatte ich mich mit Heinrich Heine und Friedrich Hölderlin. Ich schnitt also schlecht ab. Wo seien die neuen Lehrpläne für die marxistische Literaturwissenschaft und wo bleibe die

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