Endlich wieder leben
Nationalismus gebrandmarkt wurde, legten zumindest in ihrer Wirkung den Verdacht eines unterschwelligen Antisemitismus nahe.
Ich finde es allerdings falsch, wenn der noch oder wieder virulente Antisemitismus in der DDR als offiziell geduldet bezeichnet wird. Es wurde viel Mühe darauf verwandt, Wissen über die Verbrechen des Nationalsozialismus an Juden und Kommunisten zu verbreiten; überlebende Opfer des Faschismus erzählten vor Schulklassen von ihren Verfolgungen in Konzentrations- und Arbeitslagern. Soviel ich weiß, haben alle Schüler in der DDR einmal ein KZ besucht. Jüdische Religion und jüdisch-kulturelle Traditionen waren zwar weitgehend unbekannt und öffentlich kaum wahrnehmbar – nur versehentlich geriet ich in einem Hotel einmal in die Chanukka-Feier einer Jüdischen Gemeinde –, aber sie waren nicht verboten wie etwa die der Zeugen Jehovas. Und ich erinnere mich an zwei Gastspiele jüdischer Theater, einmal aus Rumänien, ein anderes Mal aus Warschau mit Ida Kaminska, deren ausverkaufte Vorstellungen vom Publikum wohlwollend aufgenommen wurden, obwohl die wenigsten die jiddischen Texte verstehen konnten.
Staatliche Organe in der DDR haben hohe Nazi-Funktionäre und Verbrecher nicht gedeckt oder sogar gefördert, wie es im Westen etwa mit Hans Globke geschah, dem engsten Vertrauten von Konrad Adenauer, und mit Theodor Oberländer, dem Vertriebenenminister in Adenauers Kabinett. Anders als in der BRD war die Entnazifizierung in der DDR schnell und konsequent durchgeführt worden. In Westdeutschland hingegen wurde sie wie eine Art Beichte begriffen, nach der man aller Sünden ledig war und frohgemut das Wirtschaftswunder kreieren konnte. Die Schuld am Krieg blieb zwar bestehen, aber mit dem Triumph der neuen Entwicklung schrumpfte sie zu der einiger Böser. Die Bundesbürger konnten sich mit altem und neuem Stolz an der Seite der Westmächte als Verteidiger des Abendlandes gegen das bedrohliche Lager des Kommunismus fühlen.
Für mich und noch mehr für Wolfgang als Juden war es unmöglich, die unbedingte Identifikation mit der von uns so inständig bejahten
sozialistischen Alternative in Frage zu stellen. Wir fuhren nicht einmal nach West-Berlin, obwohl das noch jederzeit möglich war. Genossen hatten ja oft Verwandte dort, ein Besuch war nicht verboten, wenn auch nicht gern gesehen. Aber was sollte ich mir da ansehen? Die vollen Schaufenster? Dolce Vita , ja, diesen Film von Federico Fellini mit Marcello Mastroianni und Anita Ekberg habe ich gesehen. Still und heimlich. Und einmal besuchten wir gemeinsam eine Ausstellung des Malers Karl Hofer, den Wolfgang schätzte und mir zeigen wollte.
Nach West-Berlin fuhr ich nur, wenn wir zu Agitationseinsätzen geschickt wurden und an den Wohnungstüren klingelten, um zum Beispiel Unterschriften für die Ächtung der Atombombe zu sammeln. Ich erinnere mich an keinen Erfolg, aber viele zugeknallte Türen und kläffende Hunde. Ein Einsatz in Westdeutschland blieb mir erspart. Wir sollten quasi als Touristen getarnt über die noch durchlässige Grenze in das rheinische Industriegebiet fahren und morgens in der Nähe eines Fabriktors Agitationsmaterial an die Arbeiter verteilen beziehungsweise sie ansprechen. Da ich zum zweiten Trupp gehörte, blieb mir diese Blamage erspart, denn der erste Trupp war schon im Zug samt seinem Material von der bundesdeutschen Polizei in Empfang genommen worden. Diesen Unfug erlebte ich halb belustigt, halb verärgert, aber es fiel mir damals nicht ein, ihn öffentlich zu kritisieren, es wurde auch nicht darüber diskutiert.
Die politische Entwicklung nahm 1953 einen unguten Verlauf. In der Bevölkerung herrschte zu Recht große Unzufriedenheit. Am 17. Juni erreichten die Proteste, die ich selbst nicht aus eigener Beobachtung erlebte, ihren Höhepunkt; als Ergebnis erhoffte ich einen Neuanfang und Verbesserungen. Die anfangs heftig geführten Debatten verstummten jedoch sehr bald wieder und machten einem wenig veränderten Alltag Platz. Ich fühlte mich müde und ging möglichen Konflikten aus dem Weg. Ich wollte auch Wolfgangs Optimismus nicht dämpfen und konzentrierte mich auf meine Arbeit, das von uns reichlich genutzte Berliner Kulturleben und den großen Freundes- und Bekanntenkreis, der oft und zahlreich bei uns aus-und einging. Nach der Geburt meiner beiden Söhne 1954 und 1955 bin ich nicht an die Akademie zurückgekehrt, denn Krippenplätze waren noch selten. Mein reflektierendes Tagebuch legte ich beiseite bis zu
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