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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Wolfgangs Tod 34 Jahre später, nach dem es mir wieder den Dialogpartner ersetzen musste und zu einem nicht endenden, buchdicken Brief an ihn wurde. Seine Antworten musste ich mir freilich vorstellen. Ich blieb damals also zu Hause und begann, im Rahmen einer langfristigen, antireligiösen Kampagne die beiden französischen Philosophen Paul Thiry d’Holbach und Denis Diderot zu übersetzen.

    Bild 22
    Propaganda beim Klassengegner: In der Bundesrepublik war die Freie Deutsche Jugend (FDJ) seit 1951 verboten. Als angebliche Touristen reisten FDJ-Mitglieder jedoch regelmäßig nach West-Berlin und Westdeutschland, um für den Sozialismus zu werben. Hier verteilten sie ihr Organ »Junge Welt« an einem Pfingstwochenende in West-Berlin.
    Die nächste, nun weltpolitisch folgenreiche Zäsur nach dem 17. Juni war der 20. Parteitag der KPdSU 1956. Die Geheimrede, in der Parteichef Nikita Chruschtschow die Verbrechen Stalins enthüllte, war in der DDR nicht veröffentlicht worden, aber viele, auch wir, hatten sie sich irgendwie beschafft. Wir waren alle erschüttert und hatten trotzdem das Gefühl, man hätte es geahnt. Die Sache selbst, die sozialistische Idee, sah ich durch Stalins Verbrechen nicht diskreditiert, aber beschädigt. Es war eben kein Sozialismus, was bisher praktiziert worden war. Wir meinten, in der DDR werde es möglich sein, den Weg vom Schlamm aus den vergangenen Zeiten zu säubern und neue Fehlentwicklungen mit demokratischen Kontrollinstanzen auszuschließen. Wir hofften wieder auf Veränderungen von innen, eine Selbstreinigung.
    Nachdem ich meine Kinder 1957 in den Kindergarten bringen konnte, ging ich als Redakteurin an die Junge Kunst . 150 Die Zeitschrift sollte das von Ulbricht verkündete Ziel der »gebildeten Nation« mit guten Beiträgen propagieren, eine Aufgabe, bei der ich mich in meinem Element fühlen konnte. Als Dolmetscherin für Französisch begleitete ich im Jahr darauf eine DDR-Delegation einige Wochen zu einem Erfahrungsaustausch über Fragen sozialistischer Erziehung und Bildung nach Nordvietnam. Mit einem Vietnamesen und zwei DDR-Pädagogen fuhr ich im Jeep durch das Land, den Dschungel, durch Städte und ganz entlegene Orte, um – wenige Jahre nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft – Bildungseinrichtungen
aller Art vom Kindergarten bis zur Universität zu besuchen und mit den Verantwortlichen Gespräche zu führen. Das war für mich die unschätzbare Erfahrung eines exotischen Landes und seiner Bewohner, zugleich auch ein starker Eindruck von der praktischen internationalen Solidarität unseres Staates mit dem tapferen Volk, das als Sieger aus einem grausamen Krieg hervorgegangen war – und dem der schlimmere damals noch bevorstand.
    Gegen Ende des Jahrzehnts war mir mehr und mehr klar geworden, dass wir nur ein kleiner Satellitenstaat waren und allein gar nichts ausrichten konnten, wenn die Sowjetunion nicht zustimmte. Der Spielraum war klein. Wolfgang hat aber immer gesagt: »Wir müssen unser Bäumchen pflanzen, wo wir können. Man soll Möglichkeiten des Produktiv-Seins suchen – es gibt sie immer und überall. Vieles ist zwar nicht gut, aber wir können aus eigener Kraft erreichen, dass es besser wird.«
    Wolfgangs Student Wolf Biermann, der noch mit uns befreundet war, hat immer kritisiert, dass wir nicht weit genug in unserer Kritik an der DDR gingen. Wir müssten ein bisschen zu weit gehen, hat Biermann gesagt, allein schon deshalb, weil all die Feiglinge immer viel zu kurz gingen. Das war nicht Wolfgangs Denkweise. Er hielt dagegen: »Gewiss zu weit, aber nicht zu weit zu weit!«
    Wir waren überzeugt, es geht nur mit der Partei voran. In den Enttäuschungen, die wir mit dem von uns als Kinder aus antifaschistischer und jüdischer Familie herbeigesehnten Staat erlebten, sahen wir zu keiner Zeit einen Grund, ihn zu verlassen.
    Ich sah die DDR im Prinzip und der Verfassung nach als den zukunftsweisenden deutschen Staat. Bis heute halte ich die Kernsubstanz der marxistischen Theorie für nicht widerlegt und nicht überholt. Bei Vielem jedoch, was ich hier über meine frühen Jahre berichte und zu erklären versuche, bleiben Widersprüche und Fragen, das ständige Gefühl, etwas berichtigen zu müssen – ein Zeichen dafür, dass ich mit dieser Vergangenheit nicht »fertig« bin, dass sie nicht »bewältigt« ist, wie es immer so schön heißt. Aber ist das überhaupt möglich?

    Und ob es die in immer höherem Tempo ablaufenden historischen Prozesse

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