Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Schach-Ultramarathon. Sein Gegner war Hans Matthai, ein kanadischer Einwanderer mit deutschen Wurzeln. Die Partie, die die längste in Bobbys gesamter Karriere bleiben sollte, endete nach sieben Stunden in einem interessanten Remis.
Hinterher grübelte Bobby, ob er die Partie in letzter Sekunde nicht vielleicht doch noch hätte gewinnen können. Etwas nagte in seinem Hinterkopf.
In der folgenden Nacht schlief Bobby tief, aber ruhelos. Immer wieder erschien ihm die Stellung im Traum, gefühlte hundert Mal. Unmittelbar vor dem Erwachen sah er plötzlich die Lösung vor sich, wie eine Erscheinung. Er hätte doch gewinnen können!
Bobby schoss hoch. »Ich hab’s!«, jubelte er – nicht wissend, dass sich noch jemand im Zimmer befand: Mrs. Hornung war gerade auf Zehenspitzen hereingeschlichen, um Bobby zum Frühstück zu holen. Sie war Zeugin seiner Erleuchtung. Barfuß und im Schlafanzug rannte Bobby ins Wohnzimmer, wo immer ein Schachspiel bereitstand. Er baute die Stellung des Vortags auf, tüftelte kurz und schimpfte dann: »Ich wusste , ich hätte gewinnen müssen!«
Freud vertrat die Ansicht, dass wir in Träumen Vorfälle, Gedanken, Bilder und Gefühle des vergangenen Tages verarbeiten. Tatsächlich träumen manche Spieler während Turnieren nachts von ihren Partien, und gelegentlich lösen sie träumend Fragen, die sie beschäftigten. Der Schachweltmeister Boris Spasski gestand, er träume mitunter von Schach. Der sowjetische Schachgroßmeister David Bronstein erzählte sogar, er spiele im Schlaf ganze Partien – an die er sich am nächsten Morgen noch erinnerte. Michail Botwinnik berichtete, in seinem Weltmeisterschaftskampf gegen Wassili Smyslow sei er eines Nachts erwacht, zum Brett gegangen und habe den Zug gemacht, der die Hängepartie für ihn entschied.
Bobby hingegen träumte nur selten von Schach. Doch wenn er es tat, kam immer etwas Produktives dabei heraus, mal eine Idee für eine zukünftige Partie, mal die Erkenntnis, was er in einer vergangenen Partie hätte besser machen können. In einem Interview erzählte Bobby einmal, am häufigsten träume er Detektivgeschichten, oft ziemlich verworrene: Schach in symbolischer Form, mit lebenden Figuren, Winkelzügen des Täters, Strategien des Ermittlers, mit Mord statt Schachmatt.
Bobbys letztes Duell des Turniers, gegen den kanadischen Meister Frank Anderson, entwickelte sich zu einer echten Zitterpartie. Bobby war so angespannt, dass er erst an den Nägeln seiner linken Hand knabberte und sich später wiederholt ins Hemd biss. Mit den Zähnen riss er ganze Stücke aus dem Stoff. Am Ende hatte er ein durchlöchertes Hemd – und ein Remis erkämpft.
Bobby beendete das Turnier mit 7 zu 3 Punkten, was für den zweiten Platz reichte. Er gewann 59 Dollar, die er einsteckte, ohne seiner Mutter davon zu erzählen.
Champion wurde mit einem Punkt Vorsprung Larry Evans aus New York. Bobby wusste, dass er mit dem Auto gekommen war, und bat Evans, ihn nach New York mitzunehmen. Während der Fahrt hatte Bobby kein Auge für die wunderschöne Landschaft oder für Evans’ ebenso wunderschöne Frau, die auf die Rückbank ausgewichen war, damit der Junge vorn sitzen konnte. Statt hinauszusehen, löcherte Bobby den Champion auf der gesamten achtstündigen Fahrt mit Fragen: »Warum haben Sie Pirc gespielt, und das gegen Anderson?«, »Hätte Sherwin Chancen gehabt, gegen Sie remis zu spielen oder gar zu gewinnen? Wie?«, »Hatte es Mednis nicht in der Hand, gegen Sie zu gewinnen? Warum akzeptierte er das Remis? Bedenkzeit hätte er noch genug gehabt.« Evans erzählte später: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich mit dem zukünftigen Schachweltmeister redete. [In meinen Augen war Bobby] ein sehr junger Meister mit großer Leidenschaft. Auf dieser Fahrt begann eine lange und gelegentlich turbulente Freundschaft.«
Eine Woche nach seiner Rückkehr aus Kanada ging Bobby auf ein Abendspiel seiner geliebten Brooklyn Dodgers gegen die Milwaukee Braves. Er wurde nicht enttäuscht: Die Dodgers gewannen, und Jackie Robinson zog eine tolle Show ab. Robinson, der im Stehlen von Bases groß war, tanzte um die zweite Base herum, bis der Werfer ganz kirre wurde. Als der Werfer versuchte, ihn rauszuwerfen, segelte der Ball über den Mann an der zweiten Base, Robinson flitzte los und machte einen Homerun.
Am Ende dieses Sommers, in dem er nach New Jersey, Philadelphia, Oklahoma und schließlich Montreal getingelt war, fühlte Bobby sich viel erwachsener als zuvor. Auch die
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