Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
öffnete sie, und vor mir stand ein schlanker, blonder 13-Jähriger, ein typischer amerikanischer Junge. Er trug ein Wollhemd mit Karomuster, Cordhosen und schwarz-weiße Turnschuhe. Er sagte schlicht: »Ich bin Bobby Fischer.«
Ich hatte ihn zuvor schon einmal getroffen und antwortete: »Hi, Bobby, komm rein.« Wir gingen ins Wohnzimmer und setzten uns an ein Schachbrett. Ich wusste, dass er ziemlich schüchtern war, und ich fühle mich bei ersten Begegnungen auch nicht immer wohl. Also schien es das Beste, uns sofort in das zu stürzen, was wir beide am liebsten mochten: Schach. Auf dem Brett war die aktuelle Stellung einer Fernschachpartie aufgebaut, die ich gerade spielte. Die Stellung war vertrackt, und ich hatte schon eine halbe Stunde an ihr herumgeknobelt. Ich deutete mit dem Kinn auf das Brett und fragte: »Bobby, was hältst du von der Stellung?«
Bobby ging mit Feuereifer an die Sache. Schon Sekunden später sprudelte er mögliche Züge hervor, probierte Zugfolgen, suchte nach Gewinnstellungen und ging Variationen durch. Er konnte kaum so schnell ziehen, wie er dachte. Und tatsächlich entdeckte er einige Möglichkeiten, die ich noch nicht gesehen hatte. Ich war schwer beeindruckt. Natürlich hatte ich von seinem bemerkenswerten Talent gehört. Doch an jenem Nachmittag erkannte ich Bobbys Genialität. Ich wusste, er konnte zu einem der größten Spieler aller Zeiten werden.
Ebenso wie Bobby im Sommer zuvor in den Schachclub Manhattan geplatzt war – und dort Dauergast geworden war –, gehörte er in Collins’ Salon bald zum lebenden Inventar. Collins’ Wohnung lag nur wenige Straßen von der Erasmus High School entfernt, sodass Bobby sogar in Freistunden und der Mittagspause herüberlaufen konnte, um ein paar Partien mit Collins zu spielen und nebenher sein von daheim mitgebrachtes Sandwich zu verschlingen. Nach Schulschluss, um drei Uhr nachmittags, kam er wieder und verbrachte den Rest des Tages am Brett. Oft aß er bei Jack und seiner Schwester Ethel zu Abend; meist spielten oder analysierten Bobby und Jack nebenher noch eine Partie. Am Abend blieb Bobby so lange am Brett, bis Regina oder Joan kamen und ihn heimschleppten. Bobby und Jack spielten Tausende Partien – meist Blitzschach – miteinander, analysierten Hunderte Stellungen und lösten gemeinsam Dutzende Schachprobleme. Bobby lieh sich auch regelmäßig Bücher aus Collins’ Bibliothek aus. Der klein gewachsene Mann im Rollstuhl und der aufschießende Junge gingen ins Kino, aßen in Restaurants, besuchten Schachveranstaltungen und begingen gemeinsam Geburts- und Feiertage. Die Wohnung der Collins’ wurde Bobby in jeder Hinsicht ein Zuhause, für Jack und Ethel gehörte er zur Familie.
War Jack Collins nun Bobbys wichtigster Lehrmeister, überschattete er Carmine Nigro? Bobby tönte später einmal, er habe von Collins nichts gelernt. Aber da sprach vermutlich nur kalter, undankbarer Stolz aus ihm. Auf jeden Fall löste Collins Carmine Nigro als Bobbys Mentor ab. Nigro zog 1956 nach Florida, in dem Jahr, als Bobby und Collins sich trafen. Bobby sah Nigro nie wieder.
Collins gehörte zur nationalen Schachelite und rangierte etliche Jahre in den Top 50, da konnte Nigro nicht annähernd mithalten. Bobby erklärte, er habe Nigro eher als Freund empfunden, auch wenn er ein hervorragender Lehrer gewesen sei. Nigro war von Berufs wegen Lehrer und unterrichtete auf althergebrachte Art, sehr förmlich. Im Gegensatz dazu verfolgte Collins eher den sokratischen Ansatz. Oft baute er für Schüler eine Stellung auf und sagte: »Schauen wir uns die mal an.« Genau wie Bobby an seinem ersten Tag, sollte der Schüler sich daraufhin einen Plan oder eine Reihe von Alternativen ausdenken. So brachte Collins seine Schützlinge zum Nachdenken. Mit Bobby wiederholte er das Hunderte Male. Nigro und Collins hatten beide ein väterliches Verhältnis zu Bobby. Allerdings blieb Bobby 15 Jahre lang in engem Kontakt zu Collins, während Nigro den Jungen zwar in einer prägenden Lebensphase, jedoch nur fünf Jahre lang begleitet hatte.
Wenn Bobby von einem Turnier zurückkam, eilte er oft gleich zu Collins, um seine Partien noch einmal durchzugehen. Collins, ein scharfsinniger Analytiker, kommentierte die Züge, die Bobby gemacht und nicht gemacht hatte. Dabei lernte Bobby natürlich dazu, wenn auch nicht auf traditionelle Art. Es hätte überhaupt nicht Collins’ Art entsprochen, direkte Empfehlungen zu geben wie: »Denk immer an diese Variante der
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