Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Seiten anzugreifen. Das entsprach gar nicht der gängigen Spielweise und würde im Verlauf der Partie zu einer ungewöhnlichen Stellung führen. Von da an würde Bobby sich auf seine Kreativität verlassen müssen. Er beschloss, das Risiko einzugehen.
Da Bobby mit Grünfeld nicht sehr vertraut war, musste er schon bald vor jedem seiner Züge länger nachdenken. Schon früh geriet er in Zeitnot. Er wurde immer nervöser, knabberte an den Fingernägeln, spielte mit seinen Haaren, saß mal im Schneidersitz, mal kniete er auf dem Stuhl, legte einen Ellbogen auf den Tisch und stützte sein Kinn mal in die eine Hand, mal in die andere. Byrne hatte gerade Samuel Reshevsky besiegt, den stärksten amerikanischen Großmeister im Turnier, befand sich also in Topform. Bobby schob zwar keine Panik, war aber entschieden nervös.
Immer mehr Kiebitze scharten sich um das Brett, und jedes Mal, wenn Bobby aufstand, um zu der winzigen Toilette am Ende des Raums zu gehen, musste er sich einen Weg durch die Menschentraube bahnen. Das störte ihn in seiner Konzentration. Normalerweise beschäftigte ihn eine gerade laufende Partie im Kopf weiter, auch wenn er vom Brett aufstand. »Die Zuschauer wurden sogar ermuntert, sich direkt neben die Spieler zu setzen. Wenn ich sie bat, doch still zu sein oder zu gehen, waren sie tief beleidigt«, erinnerte sich Bobby. Ihm fiel auch auf, wie stickig es in dem Raum geworden war. Draußen herrschte Altweibersommer, drinnen drängten sich scharenweise Leute. Die Clubführung nahm Bobbys Beschwerde über die Hitze zwar zur Kenntnis, aber es war zu spät, um an jenem Abend noch etwas zu ändern. Im folgenden Sommer installierte der Marshall erstmals eine Klimaanlage.
Den widrigen Umständen zum Trotz kämpfte Bobby tapfer weiter. Nach nur elf Zügen hatte er sich wie durch Magie einen Stellungsvorteil aufgebaut. Dann zog er plötzlich einen Springer auf ein Feld, wo der Gegner ihn schlagen konnte. »Was sollte das denn?«, rutschte es einem Zuschauer heraus. »War das ein Patzer oder ein Opfer?« Die Zuschauer musterten die Stellung, und allmählich dämmerte ihnen Bobbys Plan. Der Springer war »vergiftet« – hätte Byrne ihn geschlagen, hätte er die Partie unweigerlich verloren. Der gesamte Raum war von Fischers mutigem Zug wie elektrisiert. Der Schiedsrichter beschrieb die Szene hinterher so: »Nach seinem Zug ging ein Raunen durch den Saal, die Zuschauer strömten zu Fischers Brett wie Fische zu einem Loch im Eis.«
Es entstand genau der Trubel, den Bobby so gern vermieden hätte. »Mir war bewusst, dass wir einer ganz großen Partie beiwohnten«, erinnerte sich Allen Kaufman, ein Meister, der die Begegnung mitverfolgte. »Die Partie war sensationell, alle waren wie gebannt. Ein außergewöhnlicher Moment: Dieser Spielverlauf und dazu noch Bobbys Jugend, das war eine unschlagbare Kombination.«
Die Partie lief weiter, und bald blieben Bobby nur noch 20 Minuten Bedenkzeit für die nächsten 24 Züge. Bis dahin hatte er gerade mal 16 gemacht. Und dann kam ihm ein geradezu revolutionärer Einfall. Er sah eine Möglichkeit, die Lage auf dem Brett total zu verändern, das Spiel auf den Kopf zu stellen: indem er Byrne erlaubte, seine Dame zu schlagen. Normalerweise bedeutet der Verlust der Königin die sichere Niederlage. Doch was, wenn Byrne durch das Schlagen der Dame seine eigene Angriffs- und Verteidigungsposition entscheidend schwächte?
Der Einfall kam Bobby ganz instinktiv, zunächst ohne bewusstes Kalkül. Dann dachte er die Idee durch, fand aber keinen Denkfehler. Es war, als habe sich ein kleiner Spalt geöffnet und immer mehr geweitet, bis ein gleißendes Licht hindurchdrang und die gesamte Landschaft auf dem Brett erstrahlen ließ. Bobby war sich nicht ganz sicher, ob er die Folgen seines Tuns wirklich voll überblickte, aber er wagte es trotzdem: Er ließ Byrne seine Dame schlagen.
Byrne blieb auch überhaupt keine Wahl: Wenn er das Opfer ausschlug, hatte er praktisch schon verloren. Nahm er es aber an, verlor er ebenfalls. Was immer Byrne auch tat, er war geschlagen, auch wenn die Partie noch längst nicht vorbei war. Ein Zuschauer wisperte für alle hörbar: »Unmöglich! Byrne verliert gegen einen 13-jährigen Nobody.«
Byrne schlug die Dame.
Bobby spielte nun derart konzentriert, dass er das lauter werdende Raunen der Menge gar nicht mehr mitbekam. Egal, was Byrne machte, Bobby hatte sofort eine Antwort parat. Ganz offenkundig hatte er den gesamten langen Rest der Partie schon
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