Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
J. Marshall eine Bleibe habe. Marshall war damals amtierender US-Meister; insgesamt hielt er den Titel volle 27 Jahre lang. In diesem Haus lebte Marshall samt Familie, spielte Schach, dachte nach, gab Schachunterricht und veranstaltete Turniere. Gut möglich, dass Bobby sich in viktorianische Zeiten zurückversetzt fühlte, wenn er die Straße mit ihren herrschaftlichen Sandsteinhäusern entlangging, vor deren Fenstern Blumenkästen hingen. Im gleichen Straßenzug gab es sogar einen privaten Reiterhof.
Viele der renommiertesten Schachmeister hatten den Club besucht; durch seine Räume wehte noch der Nachhall legendärer Partien, epischer Schlachten, hart erkämpfter Siege und erschütternder Niederlagen. In den gesamten Vereinigten Staaten reichte nur ein einziger anderer Club an den Marshall heran: der Schachclub Manhattan, 49 Straßen weiter nördlich. Bei Mannschaftswettkämpfen gewann normalerweise der Manhattan, aber nicht immer.
Mit seinen Holzvertäfelungen, schweren, tiefroten Samtvorhängen, offenen Kaminen und Eichentischen samt Messinglampen erinnerte der Marshall an einen britischen Offiziersclub. Hier trug der brillante Kubaner José Raúl Capablanca seinen letzten Schaukampf aus, hier spielte der Weltmeister Alexander Aljechin auf einem Besuch Blitzschach, hier hielten und halten die begabtesten Großmeister der Welt Vorträge über Schachtheorie. Der Künstler Marcel Duchamp wohnte direkt gegenüber, war ein aktives Mitglied des Clubs und wurde ein großer Fan Bobbys. Der Nobelpreisträger Sinclair Lewis nahm hier Unterricht. Der Marshall entsprach der Idealvorstellung eines Schachclubs so sehr, dass man ihn als Filmkulisse hätte verwenden können.
Gewiss, in dem Club herrschte eine strenge Etikette, auch in Sachen Kleidung. Bobbys übliche Klamotten – T-Shirt, zerknitterte Hose, Turnschuhe – irritierten Caroline Marshall, Franks Witwe, zutiefst. Sie leitete den Club viele Jahre und wies Bobby wiederholt darauf hin, dass er die Kleiderordnung missachtete. Einmal drohte sie sogar, ihn auszuschließen, wenn er sich nicht ordentlicher anzog. Bobby ignorierte sie.
Eines Abends im Oktober ging er in den Marshall, um die siebte Runde im Rosenwaldturnier zu spielen. Das Einladungsturnier war nach Lessing J. Rosenwald benannt, dem Ex-Vorstand von Sears Roebuck. Rosenwald war ein bedeutender Kunstsammler und eifriger Schachmäzen. Die Einladung hatte Bobby aufgrund seines Sieges bei der amerikanischen Juniorenmeisterschaft im vergangenen Sommer erhalten. Das Rosenwald war das erste wichtige Einladungsturnier in Bobbys Karriere, seine elf Gegner waren sämtlich ausgewachsene Schach-Meister, einige von ihnen zählten zu den besten und stärksten Spielern der USA. Der ganze Club fieberte dem Ereignis entgegen. An jenem Abend trat Bobby gegen Professor Donald Byrne an. Der dunkelhaarige, 25-jährige Byrne, ein Internationaler Meister und ehemaliger Champion der US Open, galt als äußerst angriffslustiger Spieler. Er sprach ebenso gewählt, wie er sich kleidete, und rauchte ohne Unterlass. Seine Pose am Brett ließ ihn aristokratisch wirken: Ellbogen auf dem Tisch, die Hand mit der Zigarette zwischen zwei Fingern nach oben gestreckt.
Regina hatte Bobby zum Club begleitet, doch kaum hatte er losgelegt, verschwand sie in der nahe gelegenen Buchhandlung Strand, deren Regale Millionen Secondhandbücher enthielten. Sie wusste, Bobby würde Stunden brauchen.
Bis dahin hatte Bobby in diesem Turnier noch keine Partie gewinnen können, allerdings drei Remis gespielt. Mit jeder Runde schien er stärker zu werden, fast schien es, als könne man ihm beim Heranreifen zusehen. Bei Schachturnieren werden den Teilnehmern für jede Runde nicht nur Gegner zugewiesen, sondern auch die Farbe. Nach Möglichkeit gibt der Turnierleiter jedem Spieler abwechselnd Weiß und Schwarz. Da Weiß als Erstes zieht, hat der Spieler mit dieser Farbe einen Startvorteil; er legt vor, der andere muss reagieren. Gegen Byrne hatte Bobby Schwarz.
Bobby hatte etliche frühere Partien Byrnes in Schachbüchern und -zeitschriften abgedruckt gesehen. Er kannte also dessen Stil und Vorlieben. Bobby plante, ihn mit der selten gespielten Grünfeld-Verteidigung aus dem Konzept zu bringen. Die war Byrne nicht gewohnt – Bobby allerdings auch nicht.
Bobby kannte diese Eröffnung zwar in ihren Grundzügen, beherrschte aber nicht alle ihre Feinheiten. Er plante, Weiß die Mitte des Feldes zu überlassen und die Figuren seines Gegners dann von allen
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