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Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Titel: Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Brady
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sein Begleiter nicht widerstehen konnte. Mit schlechtem Gewissen, weil er in Bobbys Privatsphäre eindrang, schob er den Deckel der Schachtel auf. Darin lag ein Buch, auf dem in goldenen Lettern stand: Die Bibel.
    In jener Phase verzichtete Bobby aus Frömmigkeit auf den Gebrauch von Obszönitäten. Eines Abends saß er mit einem Freund in Howard Johnsons Restaurant an der Sixth Avenue Ecke Greenwich und trank Limonade mit Eiskrem, als eine junge Frau um die 18 wiederholt in das Restaurant torkelte. Sie war betrunken oder high und gab einen ununterbrochenen Strom von Obszönitäten von sich. Bobby regte sich fürchterlich auf. »Hast du das gehört?«, fragte er. »Das ist schrecklich.« Er ertrug es nicht, der Frau weiter zuzuhören. »Lass uns gehen«, forderte er seinen Freund auf. Die beiden gingen, ohne ihre Limonade ausgetrunken zu haben.

6. Kapitel Der neue Fischer

    E s war peinlich, das Betteln mitanhören zu müssen. Ein junger Schachmeister, ein paar Jahre älter als Bobby, rief vom Büro des Marshall an und versuchte, Bobby zu einem Treffen zu überreden: »Mach schon, Bobby. Ich hol dich ab, okay?« Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Wir können einfach rumhängen.« Stille. »Wir spielen ein paar Fünf-Minuten-Partien oder gehen ins Kino.« Keine Antwort. »Nimm doch ein Taxi. Ich zahle.« Es war zwei Uhr nachmittags, und Bobby war gerade aufgewacht. Als er nach endlosem Klingeln endlich antwortete, klang seine Stimme rau und schleppend; er zog die Worte dermaßen in die Länge, dass aus jeder Silbe zwei wurden. Doch er redete laut – laut genug, dass alle im Büro es mithören konnten. »Ich weiß nicht. Nein. Wann? Ich muss was essen.« Der Anrufer schöpfte Hoffnung: »Wir können in der Oyster Bar essen. Komm schon, du magst das.« Geschafft! Eineinhalb Stunden später, um halb vier Uhr nachmittags, nahm der 16-jährige Bobby die erste Mahlzeit des Tages ein: Seezungenfilet und ein großes Glas Orangensaft.
    Wahrscheinlich hatte ihn kaum ein Passant erkannt, als er durch das Grand Central Terminal zum Restaurant ging, doch für seinen Gastgeber – wie für fast alle Schachspieler – bedeutete ein Essen mit Fischer so viel wie anderen ein Dinner mit Cary Grant oder Gina Lollobrigida. In der Schachwelt entwickelte sich Bobby zum Superstar, doch je berühmter er wurde, desto ekliger benahm er sich. Durch seine Erfolge am Brett war sein Ego so groß geworden, dass er niemanden mehr als gleichwertig behandelte. Der charmante Bobby mit seinem ansteckenden Lächeln existierte nicht mehr. An seine Stelle war ein schwieriger, herablassender, oft übellauniger Bobby getreten. Außerdem betrachtete er es zunehmend als Gefallen, sich mit jemandem sehen zu lassen.
    Und es machte ja nichts aus, wenn er jemanden verprellte, weil dann halt jemand anderes anrief und ihn zu einer Partie Schach, ins Kino oder zum Abendessen einlud. Alle suchten sie seine Nähe, alle wollten Teil der Bobby Fischer Show sein, und das wusste er. Ein Lapsus, ein Streit, eine schlecht getimte Verabredung, und Bobby brach den Kontakt gnadenlos ab. Und zwar endgültig; der nächste Fan stand schließlich schon bereit.
    Bobby pflegte bald mit niemandem mehr Umgang, der nicht Schach spielte. Nur eines verachtete er noch mehr als Nicht-Spieler: schwache Spieler. Ersteren konnte man ihre Ignoranz vergeben, aber für schwache Spieler – zu denen per Definition fast jeder gehörte, den Bobby schlagen konnte – galt keine Ausrede. »Also bis zum Meister sollte es wirklich jeder bringen«, sagte er überzeugt. Bobby führte sich auf wie ein König, dabei lief es im Herbst 1959 für ihn gar nicht gut. Vor einem knappen Monat war er vom Kandidatenturnier in Jugoslawien zurückgekehrt, und er war noch immer erschöpft. Vom Schach selbst bekam er nie genug, doch das überaus anstrengende zweimonatige Turnier hatte ihn enorm Kraft gekostet. Er litt darunter, das Turnier nicht gewonnen zu haben, und konnte die vier schmerzlichen Niederlagen gegen Tal (die »geraubten Siege«, wie er es nannte) nicht verwinden.
    Dazu kamen, wie immer, Geldsorgen. In Bobbys Umfeld stellte man sich die offensichtliche Frage: Wie kam es, dass einer der besten Spieler der Welt oder zumindest der USA nicht von seinem Beruf leben konnte? Damals betrug das Jahreseinkommen des Durchschnittsamerikaners 5500 Dollar. Warum hatte Bobby, der sich gewiss nicht als durchschnittlich betrachtete, dann in einem Jahr harter Arbeit kaum 1000 Dollar verdient? Für die

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