Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Golombek, der Oberschiedsrichter, fand, Fischer sei im Lauf des Turniers besser geworden. Er mutmaßte: »Ginge das Turnier über 56 Runden statt nur über 28«, käme Bobbys große Stunde noch. »An Tal kommt er nicht heran, doch seine zwei Siege gegen Keres und sein ausgeglichenes Ergebnis gegen Smyslow beweisen schon seine echte Großmeister-Klasse.«
Weltmeister Michail Botwinnik schrieb: »Fischers Stärke wie Schwäche besteht darin, dass er sich stets treu bleibt und auf die gleiche Weise spielt, unabhängig von seinem Gegner und den äußeren Umständen.« Und es stimmt, Bobby blieb normalerweise bei seinem Stil, wodurch seine Gegner sich gut auf ihn einstellen konnten. Sie wussten schon im Voraus, welche Arten Eröffnungen er spielen würde.
Gut möglich, dass Tals Verhalten Bobby zur Weißglut brachte und ihm dauerhaft die Konzentration raubte. Jedenfalls begann Bobby, Pläne zu schmieden. Tal musste gestoppt werden. Wenn nicht am Brett, dann auf andere Weise. Tal, schrieb Bobby in einem Brief an Regina, hätte ihm auf unsportliche Art drei Spiele gestohlen und damit den ersten Platz im Turnier. »Er hat mich um ein Match gegen Botwinnik betrogen.«
Sprach hier schon krankhafter Verfolgungswahn aus ihm? Plante er womöglich eine Straftat? Oder ging da nur die Fantasie eines Halbwüchsigen durch? Wer weiß? Auf jeden Fall plante Bobby seine Rache. »Soll ich ihm mit meinem Stift ein Auge ausstechen? Beide Käferaugen? Vielleicht sollte ich ihn vergiften. Ich könnte in sein Zimmer im Hotel Esplanade einbrechen und das Gift in sein Trinkglas schütten.« Trotz seiner Rachepläne – die er nie umsetzte – hielt Bobby in der vierten Partie tapfer mit. Er hatte der Presse gelobt, sie zu gewinnen, egal welche Tricks Tal sich am Brett oder abseits des Bretts einfallen ließe.
Während der Partie versuchte auch Bobby sich an einem Psychotrick, trotz seines oft zitierten Spruchs: »Ich glaube nicht an Psychologie – ich glaube an gute Züge.« Normalerweise führte er seine Figur, schlug auf die Schachuhr und notierte den Zug auf dem Partieformular. Jetzt änderte er beim 21. Zug diese Reihenfolge plötzlich. Anstatt zu ziehen, beugte er sich über das Partieformular und notierte den Zug, den er erwog. Dabei wechselte er zur in Russland gebräuchlichen Notation. Danach schob er das Formular ganz beiläufig so hin, dass Tal es lesen konnte. Während seine Uhr weiterlief, beobachete Bobby Tals Reaktion.
Tal setzte ein Pokerface auf. Er erkannte, mit diesem Zug würde Bobby auf die Siegerstraße geraten. Später schrieb er: »Ich wünschte mir sehr, dass er diese Entscheidung rückgängig machte. Also stand ich ganz ruhig auf und schlenderte über die Bühne. Ich scherzte mit jemandem [Petrosjan], warf einen beiläufigen Blick auf das Schaubrett und kehrte mit zufriedenem Gesichtsausdruck an den Tisch zurück.« Dass Tal sich vor dem drohenden Zug nicht zu fürchten schien, verwirrte Bobby. War ihm ein Denkfehler unterlaufen? Er strich den Zug auf dem Partieformular und machte einen anderen Zug – der ihn geradewegs ins Verderben führte.
Verzweifelt schloss Bobby die Augen, um die weiteren Streiche Tals nicht mitzubekommen. Das Brett musste er nicht sehen, er hatte die Stellung vor seinem geistigen Auge. Fieberhaft suchte er den einen Zug, die Variante, die taktische Finte, die ihn aus den schwierigen Gewässern seiner Stellung retten würde.
Doch nichts half. Er war verloren. Tal hatte auch die vierte und letzte Partie gegen ihn gewonnen. Ein tragischer Schachtod, der ihn im Innersten traf. Bobby weinte, er machte gar keinen Versuch, seine Tränen zu verbergen. Tal gewann das Turnier und wurde später Weltmeister.
»Ich liebe die Dunkelheit der Nacht. Sie hilft mir bei der Konzentration«, erklärte Bobby einmal. Seine Schwester war inzwischen verheiratet, seine Mutter nahm an einem Friedensmarsch von San Francisco nach Moskau teil, und so gehörte die Brooklyner Wohnung ihm ganz allein. Er fand es herrlich. Nur Hoppy leistete ihm Gesellschaft, ein stiller, hinkender Hund. Der Teenager durfte tun und lassen, was er wollte, ohne Einschränkungen durch Eltern oder Gesellschaft. Um die Bettwäsche in der Wohnung nicht so oft wechseln zu müssen und um gelegentlich die Perspektive zu wechseln, schlief er abwechselnd in verschiedenen Betten. Neben jedem Bett stand ein Stuhl mit einem Schachbrett. Bobby legte sich in das Bett des Abends, betrachtete die Stellung und grübelte. Sollte er sich den
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