Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Vierbauernangriff gegen die Königsindische Verteidigung ansehen, der ihn bei Schnellschachpartien in Schwierigkeiten brachte? Sollte er Endspiele analysieren, vor allem verzwickte Konstellationen mit Turm und Bauern? Oder sollte er ein paar der 1300 hochklassigen Partien ansehen, die bei der Olympiade 1958 in München gespielt worden waren?
Fragen wie diese kamen jeden Abend vor dem Einschlafen auf, mussten aber regelmäßig 45 Minuten hintangestellt werden, wenn Bobbys Lieblingssendung im Radio kam.
Der Trompetenstoß am Anfang der »Bahn-Frei-Polka« von Eduard Strauß weckte Bobby auf, wenn er schon am Einnicken war. Die Titelmelodie der Jean Shepherd Show war von Arthur Fiedler und dem Boston Pop-Orchester eingespielt worden, und das Thema des Stücks – ein Pferderennen – erfreute Bobby jedes Mal. »Es klingt wie Zirkusmusik«, sagte Bobby einmal in aufgeräumter Stimmung, und es war einer der beschwingtesten Tänze, die der jüngste Sohn von Johann Strauss (sen.) je komponierte. Aber für Bobby kam es nicht so sehr auf die Musik an, sondern auf die folgende Sendung und den mürrischen, bissigen Humor ihres Moderators.
Bobby war ein fanatischer Anhänger von Jean Shepherd; wenn er in New York war, verpasste er kaum je eine Sendung. Shepherds Show – die verschiedentlich als teils Kabuki, teils Commedia dell’Arte beschrieben wurde – war gewöhnungsbedürftig: Ausführlich erzählte Shepherd von seiner Kindheit im Mittelwesten, seinem Leben in der Army und den Missgeschicken seines Erwachsenenlebens in New York. Er machte Kalauer, jaulte alte Barlieder (er hatte eine grässliche Stimme) und spielte Kazoo, das simpelste aller Musikinstrumente. Die meisten Sendungen waren urkomisch, andere düster, fast depressiv. Er hatte ein künstliches Lachen, irgendwo zwischen Glucksen und Gackern, das ihn verrückt klingen ließ. Trotzdem hielten seine Fans ihn für einen modernen Mark Twain oder einen J. D. Salinger. Seine Geschichten hatten Biss und eine Botschaft und konnten immer wieder erzählt werden.
Bobby schrieb Hörerbriefe an Shepherd, ging auf Liveauftritte des Moderators in Greenwich Village (in einem Kaffeehaus namens Limelight) und besuchte ihn in dessen Studio am Broadway 1440. Nach der Sendung vollzogen die zwei ein New Yorker Ritual: Sie schlenderten die zwei Blocks zum Times Square und aßen bei Grant’s einen Hotdog.
Shepherd erinnerte sich, dass sie auf diesen Ausflügen nicht viel geredet hätten. Einmal lästerte Bobby allerdings über einen Spieler, auf den er in einem Turnier treffen würde. »Er ist dumm«, wiederholte er immer und immer wieder, ohne zu verraten, um wen es sich handelte oder wie er zu seinem Urteil gelangt war.
Hin und wieder erwähnte Shepherd Bobby auch im Radio. Der Moderator spielte zwar selbst nicht Schach, bewunderte aber ein Idealbild von Bobby Fischer und dessen Leistung. »Bobby Fischer«, flüsterte er vertraulich ins Mikrofon, als rede er mit einem Zuhörer, nicht Zehntausenden. »Stell dir nur vor. Dieser richtig nette Junge, dieser großartige Schachspieler, vielleicht der größte Schachspieler aller Zeiten . Wenn er Schach spielt, ist er … fies. Also, richtig fies.« Ein paar Mal half Shepherd mit, Geld für den US-Schachbund zu sammeln. Er tat es für Bobby.
Bobby sah nicht gern fern. Beim Radiohören konnte man wenigstens nebenher ein Schachbrett betrachten. Außerdem glaubte Bobby das Gerücht, dass Fernsehgeräte schädliche elektromagnetische Strahlung aussandten, weshalb er möglichst wenig Zeit vor den allgegenwärtigen Flimmerkisten verbrachte. Die Intimität des Radios hingegen liebte er. Während Shepherds Sendung verdunkelte Bobby sein Zimmer und stellte sich vor, Shepherd rede nur mit ihm. So fühlte er sich weniger einsam. Die Beleuchtung der Radioskala schimmerte im Dunkel, neben ihm stand ein Schachbrett, im Zimmer verstreut lagen Schachbücher und -zeitschriften. Bobbys Gedanken wanderten.
Im Anschluss an Shepherds Sendung suchte Bobby nach anderen Sendungen und Shows. Manchmal begnügte er sich mit Popmusik. Wenn die Lautstärke weit genug heruntergedreht war, konnte er sich noch immer auf das Brett konzentrieren. An anderen Abenden hörte er – oft fundamentalistischen – Predigern zu, wie sie predigten und die Bibel auslegten.
Fasziniert hörte sich Bobby allmählich immer öfter religiöse Sendungen an, zum Beispiel Hour of Decision (Stunde der Entscheidung) des Erweckungspredigers Billy Graham. Darin rief Graham das
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