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Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Titel: Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Brady
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Verlauf seiner bisher einzigen Partie gegen Bronstein: das Remis beim Kandidatenturnier in Portorož zwei Jahre zuvor. Er erklärte mir jeden einzelnen Zug, wobei er die Züge Bronsteins mal lobte, mal kritisierte. Die Zahl der Varianten zum Spielverlauf, die Bobby durchspielte, war verblüffend und überwältigend. Im Zuge seiner Schnellanalyse besprach er Vor- und Nachteile bestimmter Varianten und Taktiken, warum sie ratsam waren oder warum nicht. Mir war, als betrachtete ich einen Film mit begleitendem Kommentar, allerdings im schnellen Vorlauf: Bobby zog und sprach derart schnell, dass ich Schwierigkeiten hatte, Züge und Kommentar in Einklang zu bringen. Ich schaffte es einfach nicht, dieser Flut von Ideen zu folgen: »Er konnte nicht hierher ziehen, weil er sonst seine schwarzen Felder geschwächt hätte« … »Den Zug hier habe ich nicht gesehen« … »Nein. Sollte das ein Witz sein?«
    Die Löcher der Steckgarnitur waren von Tausenden Stunden Benutzung so ausgeleiert, dass die nur einen Zentimeter hohen Figuren von selbst an ihren Platz zu springen schienen, allein durch Bobbys Willenskraft. Der Großteil der Goldfarbe, die anzeigte, ob eine Figur nun ein Läufer, König oder Turm war, war in Jahren der Benutzung abgeblättert. Aber natürlich wusste Bobby ohne hinzusehen – allein durch Berührung –, welche Figur was darstellte. Die winzigen Plastikstifte waren ihm wie vertraute Haustiere.
    »Das Problem mit Bronstein«, fuhr er fort, »liegt darin, dass man ihn fast nicht schlagen kann, wenn er auf Remis spielt. In Zürich spielte er in 28 Partien 20 Mal remis. Hast du sein Buch gelesen?« Die Frage holte mich wieder zurück in die Realität. »Nein. Ist es nicht auf Russisch?« Bobby wirkte irritiert und verblüfft, dass ich die Sprache nicht beherrschte. »Na, dann lern es! Ist ein fantastisches Buch. Er wird gegen mich auf Sieg spielen, und ich spiele nicht auf Remis.«
    In Sekunden steckte er die Figuren in ihre Ausgangspositionen zurück, wieder fast ohne hinzusehen. Er sagte: »Auf ihn kann man sich nur schwer vorbereiten, weil er so variabel spielt. Mal defensiv, mal offensiv, mit den verschiedensten Eröffnungen.« Dann begann er, mir aus dem Gedächtnis eine Partie nach der nächsten vorzuspielen – es schienen mir Dutzende –, wobei er sich auf die Eröffnungen konzentrierte, die Bronstein gegen Bobbys bevorzugte Varianten spielte. Er durchdachte eine Unzahl von Alternativen. Doch er beschränkte sich nicht auf Bronsteins Repertoire. Er machte mit mir auch eine geführte Tour durch Partien, die Louis Paulsen im 19. Jahrhundert gespielt und Experimente, die Aaron Nimzowitsch in den 1920er-Jahren gemacht hatte. Außerdem besprach er noch ein paar aktuelle Partien, die er einer russischen Zeitung entnommen hatte.
    Die ganze Zeit wägte Bobby Möglichkeiten ab, schlug Alternativen vor, wählte die besten Kombinationen, urteilte und entschied. Er bot gleichzeitig eine Geschichtsstunde und einen Schachlehrgang, vor allem aber eine beeindruckende Gedächtnisleistung. Seine inzwischen leicht glasigen Augen klebten nun an der Taschengarnitur, die er behutsam in der linken Hand hielt. Er führte Selbstgespräche; mich und das ganze Restaurant um ihn hatte er total vergessen. Er schien sogar noch tiefer versunken als während eines Turniers. Seine Finger flogen nur so herum, auf seinem Gesicht zeichnete sich ein ganz feines Lächeln ab, als hinge er Tagträumen nach. Er flüsterte, kaum hörbar: »Nun, wenn er das spielt, kann ich seinen Läufer blockieren.« Danach sagte er, so laut, dass einige Gäste zu uns herüberblickten: »Aber das wird er nicht spielen.«
    Ich begann leise zu weinen. In jenem magischen Augenblick war ich mir bewusst, in Gegenwart eines Genies zu sein.

    In Mar del Plata passierte genau, was Bobby vorhergesagt hatte: Als die beiden in der zwölften Runde aufeinandertrafen, spielte Bronstein auf Sieg. Als die Partie sich ihrem Ende näherte, waren beide Seiten von den Figuren her genau gleich stark, ein Remis war unausweichlich. Am Ende des Turniers teilten Fischer und Spasski sich den ersten Platz, was für Bobby seinen bisher größten Triumph in einem internationalen Turnier bedeutete.
    Doch zwei Monate später erlebte er, wieder in Argentinien, ein Desaster. Von allen Städten, die Bobby besucht hatte, war ihm Buenos Aires die liebste: Er mochte das Essen, die Schachbegeisterung der Leute, die großzügigen Boulevards. Doch diesmal hinderte ihn irgendetwas, seine volle

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