Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Publikum auf, sein bisheriges Leben aufzugeben und sich von Jesus Christus erretten zu lassen. Fischer verfolgte auch The Lutheran Hour (Die evangelische Stunde) und Music and the Spoken Word (Musik und das gesprochene Wort), eine Sendung des Mormon Tabernacle Choir mit aufmunternden Parolen. Am Sonntag gewöhnte Bobby sich an, den ganzen Tag Radio zu hören, immer auf der Suche nach einem guten Sender. Bei einem dieser Streifzüge durch die Senderlandschaft stolperte er in eine Sendung des charismatischen Herbert W. Armstrong auf Radio Church of God (Radio Kirche Gottes). Es handelte sich um einen eingedampften Gottesdienst mit Liedern, Hymnen und einer Predigt von Armstrong, die oft von der Natürlichkeit und der Alltagstauglichkeit der Heiligen Schrift handelte. Armstrong traf bei Bobby einen Nerv. Bobby erinnerte sich später: »Er klang so aufrichtig. Er folgte den richtigen Prinzipien: Hingabe, harte Arbeit, Hartnäckigkeit. Er gab nie auf, er war stur, er hielt durch.« Genau an diese Qualitäten glaubte auch Bobby. Sein Interesse war geweckt.
Ein Grundsatz von Armstrongs Lehre lautete, man dürfe Ärzten in ihrer Arroganz nicht trauen. Einmal predigte er:
Wir sind es nicht wert, bei der Kommunion das gebrochene Brot zu nehmen, wenn wir an Ärzte und Pillen glauben statt an Jesus Christus – und so andere Götter an Seine Stelle setzen! Deshalb sind viele krank. Viele sterben.
Gott ist der Heiler – der einzige wahre Heiler –, und die medizinische Wissenschaft stammt aus dem alten Heidenglauben an Medizinmänner, die in engem Kontakt zu imaginären Göttern zu stehen behaupteten. Sind nun alle Ärzte überflüssig?
Nein, das glaube ich nicht. Aber wenn alle Menschen Gottes Wahrheit verstünden und anwendeten, spielten Ärzte eine ganz andere Rolle als heute. Selbst ein Sack, ein ganzer Eisenbahnwaggon voll Medizin bringt keine Heilung! Die meisten unserer heutigen Krankheiten sind die Folge schlechter Ernährung und falscher Essgewohnheiten. Die wahre Funktion des Arztes sollte nicht sein, sich Gottes Stellung als einziger Heiler anzumaßen. Nein, er sollte dir helfen, den Gesetzen der Natur zu folgen, indem er eine gute Ernährung vorschreibt, indem er dir beibringt, nach den Gesetzen der Natur zu leben.
Begeistert bestellte Bobby Kopien der Predigt und verteilte sie an seine Freunde.
Im Laufe der Zeit wuchs Armstrongs Radio Church of God zu einem internationalen Konzern, der Weltweiten Kirche Gottes, mit einer Anhängerschar von 100 000 Gemeindemitgliedern und Zuhörern. Bobby fühlte sich in der evangelikalen Sekte wohl, weil sie christliche und jüdische Elemente verband, wie etwa die Einhaltung der Sabbatruhe von Freitagabend bis Samstagabend, koschere Ernährungsgesetze, den Glauben an einen künftigen Messias, das Begehen jüdischer Feiertage und die Ablehnung von Weihnachten und Ostern. In kürzester Zeit verfiel er der Church of God fast ebenso wie dem Schach. Samstagabends, nach der Sabbatruhe, fuhr er gewöhnlich in den Schachclub Manhattan oder zu Collins und spielte bis spät in die Nacht Schach. Und obwohl er manchmal erst um vier Uhr morgens heimkam, betete er dann noch eine Stunde. Er begann einen Fernkurs in »Bibelkunde«, den die Sekte anbot. Dieser Kurs ging oft auf aktuelle Ereignisse ein und interpretierte sie in Armstrongs Sinn. Am Ende jeder Wochenlektion stand ein Test zur Selbstprüfung. Eine typische Frage lautete:
Was ist der tiefere Grund für Krieg und menschliches Leid?
a) Das übermäßige Verlangen des fleischlichen Menschen
b) Unwahre politische Ideologien wie Kommunismus und Faschismus
c) Armut
d) Der Mangel an Bildungs- und Berufschancen
Lösung: a) [Bobby hatte richtig geantwortet.]
Bobby begann, der Sekte zehn Prozent seiner mageren Schacheinkünfte zu überlassen. Er weigerte sich, an Turnieren teilzunehmen, bei denen er am Freitagabend spielen musste. Er versuchte, ein Leben nach den Lehren Armstrongs zu führen, und behauptete: »Die Heilige Bibel ist das vernünftigste, bodenständig klügste Buch, das je geschrieben wurde.«
Bald nahm er einen blau überzogenen Karton überallhin mit. Wenn jemand ihn fragte, was er enthalte, antwortete er nicht. Aber sein Blick sagte: »Wie kannst du nur fragen? Ich bin tief verletzt und beleidigt.« Woche um Woche schleppte er die Schachtel mit sich herum, in den Schachclub, ins Restaurant, ins Café, in die Billardhalle. Es war schon Mitte der 60er, als Bobby während eines Restaurantbesuchs zur Toilette ging und
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