Endstadium
leider immer erst am Ende gewinnt. – Allerdings ist man im Grundschulalter für solche Einsichten zu jung, und nur aus der Jugend heraus erscheint das Leben unendlich. Das dürften auch Sie wissen!«
Ihre Stimme war hart geworden. Der Journalist zeigte sich wenig sensibel. Justus Rosell lag still im Bett. Auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. Er starrte leer an die Decke.
»In Todesnähe berichten manche Menschen von besonderen Eindrücken oder Wahrnehmungen. Ein helles Licht zum Beispiel. Kann Ihr Mann von solchen Dingen berichten?«
Seine sensationslüsterne Frage wirkte eigentümlich sachlich. Er sah Frau Rosell freundlich und lauernd an.
»Unsere Leser wird das berühren«, warb er. »Wir müssen die Herzen ansprechen. Und dieses Schicksal rührt an.«
»Nein«, antwortete sie leise. »Meines Wissens erleben Menschen solche Dinge auch erst unmittelbar vor dem Tod. Soweit ist es noch nicht.«
»Man redet gern distanziert von solchen Dingen«, lächelte der Journalist sybillinisch und wiederholte Julitas Worte. »Es ist für alle schwierig.«
Es war offensichtlich, dass er Sympathie einforderte, um mit seinen Fragen noch direkter werden zu können. Doch er schwenkte um.
»Haben Sie noch jemals Kontakt zu Ihrem Arzt gehabt?«, fragte er. »Ich meine Herrn Hobbeling, dem Ihr Mann dieses Leiden, seinen nahen Tod anlastet?« Er wollte mit dem Tod provozieren, damit sich seine Interviewpartner öffneten.
»Nein«, antwortete Julita Rosell. »Es gab keinen direkten Kontakt mehr, seitdem er die schreckliche Diagnose gestellt hatte.«
»Ich möchte nicht, dass Sie schreiben, dass Hobbeling dafür verantwortlich ist«, warf Stephan ein. »Formulieren Sie neutraler! Schreiben Sie, dass seinerzeit der Vorwurf erhoben, aber nicht bewiesen wurde.«
Der Journalist schien enttäuscht. »Anders wäre es plakativer und zugkräftiger«, meinte er.
»Ich weiß! Aber ich möchte nicht, dass meine Mandantschaft rechtlich belangt werden kann. Auch wenn der Vorwurf gegen Hobbeling berechtigt ist.«
Der Journalist nickte gehorsam. Doch das Interview war ihm nicht farbig genug.
»Wir sollten uns mehr auf das Sterben konzentrieren. Die andere Geschichte lassen wir im Hintergrund. Ich habe das mit der Redaktion vorbesprochen. Wir haben die Idee, jede Woche zu berichten. Also in jeder Ausgabe unseres Magazins immer auf derselben Seite, immer in der gleichen Aufmachung. Der Leser bleibt nah dran, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jede Woche kann er den Zustand Ihres Mannes mit demjenigen der Vorwoche vergleichen. Die Eindrücke bleiben im Gedächtnis. Der Leser ist dabei. So will er es. Aber wir müssen natürlich ganz Persönliches einflechten. Träume, Ängste, vielleicht noch einmal eine rührende Liebeserklärung.«
Frau Rosell wandte sich angewidert ab. Der Journalist ließ das Notizbuch sinken.
»Es muss schon ein Geschäft für beide Seiten sein«, belehrte er nachdrücklich. »Wir wissen doch, dass Sie Hobbeling mit unserem Artikel treffen wollen. Er wird unser Magazin lesen müssen. Wie werden Sie das erreichen? Schicken Sie es ihm zu?«
»Per Einschreiben«, nickte Frau Rosell. »Mehrmals. Nach Hause, in seine Praxis, überall dorthin, wo er ist oder sein könnte.«
»Natürlich«, lächelte der Journalist. »Und Sie hoffen, dass er es nicht ungelesen wegwirft. Er wird aus seiner Gewissensnot heraus nicht anders können als hineinzusehen. Ich glaube ja auch, dass das klappt. Und wir werden auch schreiben, dass Sie hoffen, dass Hobbeling unseren Artikel über Ihren Mann liest. Das ist doch unbedenklich, oder …?« Er wandte sich Stephan zu.
»Nun ja …« Stephan hob unschlüssig die Schultern.
»Wie auch immer, Frau Rosell«, fuhr der Journalist fort. »Wir können es uns nicht leisten, Artikel zu schreiben, die nur für den einen Adressaten bestimmt sind, den Sie im Visier haben. Unser Adressat ist unsere Lesergemeinde. Das ist eine Masse dürstender Menschen. Und dieser Durst lässt sie nach Herz und Schmerz, Blut und Schicksal lechzen. So sind wir doch alle. Oder sind Sie etwa anders, Herr Rechtsanwalt?« Er sah Stephan provozierend ins Gesicht.
»Nicht wahr, Sie lesen unser Magazin nur passiv. Sie lesen es bei Ihrem Sitznachbarn im Zug oder in der Arztpraxis. Sie kaufen das Magazin nicht. Aber Sie wissen immer, was drinsteht.«
Er lächelte triumphierend und wurde sofort wieder geschäftlich.
»Wir brauchen natürlich auch ein Foto. Jede Woche ein neues Foto. Eine Dokumentation des Verfalls. Warum
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