Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endstadium

Endstadium

Titel: Endstadium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
Vom Netzwerk:
an dem Gewissen des Arztes rütteln, der Rosell sterben ließ. Es konnte nicht um wirklich wichtige noch zu klärende Rechtsfragen gehen. Rosell hatte, wie er sagte, alles geregelt. Kein Testament, keine sonstigen Rechtsgeschäfte, die noch zu tätigen waren. Stephan war auch kein medialer Berater. Er verstand, dass er das Organ von Justus Rosell sein und dem Sterbenden in der sich fortdrehenden Welt die Stimme verleihen sollte.
     
    Julita Rosell schenkte Tee ein und stellte die Schale mit Mandelgebäck auf.
    Der Journalist war da und wartete im Flur. Sie hob vorsichtig den Kopf ihres Mannes und flößte ihm die milchig-graue sprudelnde Flüssigkeit aus dem Glas ein. Rosell schluckte und verschluckte sich. Er hüstelte, hustete und röchelte. Dann fiel sein Kopf ermattet in das Kopfkissen zurück.
    »Es ist ein Kampf für ihn, aber wir kämpfen gemeinsam«, sagte seine Frau entschieden.
    Stephan saß in geschäftsmäßiger Haltung an dem kleinen Tisch und fühlte sich unwohl.
     
    Der Journalist trug Jeans und ein weißes T-Shirt, lockige, nackenlange Haare und ein rotes Notizbuch mit eingeklemmtem weißem Kugelschreiber. Er legte seine Digitalkamera auf den Tisch, eilte zum Krankenbett, verharrte, nahm sich zurück und stellte sich höflich als Reporter seines Magazins vor.
    »Ich hoffe, ich belästige Sie nicht«, sagte er und erwartete nicht ernsthaft eine Antwort. Julita Rosell hatte ihn vorbereitet. Der Journalist ging direkt zu Stephan. Er würde nur mit ihm sprechen. Der Patient sollte nicht belästigt werden.
    »Sie entscheiden, wie ich später fotografiere«, eröffnete er formal. »Ich fühle mich ganz in Ihre Situation ein«, säuselte er geschäftsmäßig. »Unsere Leser werden so unmittelbar dabei sein, wie Sie es wollen. Wir respektieren die Würde eines jeden Menschen. – Sagen Sie einfach, wenn Ihnen einzelne Fragen zu persönlich sind. – Wehren Sie solche Fragen einfach ab!« Er sagte es beschwörend und mit leutseligem Augenaufschlag, aber er würde beleidigt sein, wenn man seine Fragen tatsächlich abwehrte. Dann stellte er sein Diktiergerät auf den Tisch.
    »Ich darf unser Gespräch aufnehmen?« Er sah Stephan kurz an.
    »Wenn es zu belastend ist, sagen wir Bescheid«, fiel Frau Rosell ein.
    »Selbstverständlich.« Zeitgleich schob er den Stecker des Diktiergeräts in die unter dem Tisch befindliche Steckdose. Stephan sah zu Frau Rosell. Sie bedeutete mit einer Handbewegung, mäßigend auf den Journalisten einzuwirken.
    Der Reporter richtete sich wieder auf. Er schlug sein rotes Notizbuch auf.
    »Herr Rosell leidet an Lungenkrebs. Ist das richtig?«
    Stephan nickte stumm.
    Der Journalist machte eine kurze Notiz, dann sah er wieder auf.
    »Unsere Leser interessiert natürlich, mit welchen Gedanken ein Mensch seine letzten Tage verbringt.«
    Seine Blicke wechselten zwischen Stephan und Frau Rosell. Die Frage wirkte unanständig, aber in der Sache war es völlig klar: Was sonst sollte die Leser an dieser Geschichte interessieren, nachdem der Rechtsstreit mit Jens Hobbeling, dem Arzt, verloren und deshalb ohnehin kein Thema mehr war?
    »Die Menschen wollen wissen, wie sie sterben«, erklärte er ungerührt, »immer vorausgesetzt, der Leser hat seinen eigenen Tod nicht unmittelbar vor Augen. Es ist unsere Aufgabe, Betroffenheit zu vermitteln – und sie zugleich von der eigenen Person zu lösen«, erläuterte er sein Handwerk und bereitete auf die kommende Frage vor:
    »Lebt man im Bewusstsein des nahenden Todes intensiver?«, fragte er nun.
    »Herr Rosell unternimmt noch einige Weltreisen«, antwortete Stephan sarkastisch und rührte in seinem Tee.
    »Herr Knobel!«, fuhr Julita Rosell milde dazwischen. »Es ist für uns alle ein schweres Thema. Mein Mann und ich genießen die letzten Stunden in stiller Zweisamkeit«, parierte sie weich. »Die verbleibende Zeit ist zu knapp, um Großes zu tun. Und seine Kraft schwindet von Tag zu Tag mehr.«
    »Also möchte man intensiver leben, und ist zugleich durch die schwindenden Kräfte gelähmt«, schloss der Journalist. »Das ist interessant!« Er schrieb sich etwas auf.
    »Hat man in dieser Situation das Gefühl, in der gesunden Zeit zu wenig intensiv gelebt zu haben?«, fragte er beflissen weiter. Er klemmte den Kugelschreiber zwischen die Lippen, während er in seinem Notizbuch eine Seite umblätterte.
    »Jeder Mensch begreift einmal, dass er aus seinem Leben mehr hätte machen können«, antwortete Julita Rosell. »Es ist eine Erkenntnis, die man

Weitere Kostenlose Bücher