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Endstadium

Endstadium

Titel: Endstadium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Gebäudekomplex auf der anderen Seite des Pools. Er überlegte, von wo aus ihm Hendryk Polloschek gestern Abend zugeprostet hatte. Dann war er sich sicher: Es war das Zimmer im zweiten Stock, links neben dem schlanken Palmenstamm. Stephan nahm das Fernglas zur Hand. Dort, wo Polloschek gestern Abend sein Glas erhoben hatte, standen zwei Korbsessel und ein kleiner Tisch auf dem Balkon. Es war das gleiche Mobiliar wie auf jedem anderen Balkon des Hotels. Er stellte das Fernglas schärfer. Über einem der Stühle hing ein Kleidungsstück, vielleicht ein T-Shirt zum Trocknen. Die Balkontür dahinter war verschlossen, die Vorhänge zugezogen. Polloscheks Balkon lag den ganzen Tag im Schatten. Alle Gäste in den Nachbarzimmern ließen die Balkontür geöffnet.
    »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte Stephan und ließ das Fernglas sinken.
    Er drehte sich um, doch Marie war schon wieder im Zimmer. Er ging hinein und fand sie im Bad. Sie wischte mit einem feuchten Tuch die Ränder des Waschbeckens nach.
    »Warum machst du das neuerdings?« Er blieb im Türrahmen stehen. Es war die Frage, die er jeden Tag mehrfach hätte stellen wollen, aber meist nicht zu stellen wagte.
    Sie putzte weiter.
    »Das Hotel ist sauber«, sagte er. »Oder siehst du das anders?«
    »Du ordnest alles, und ich putze alles«, erwiderte sie, ohne aufzublicken.
    »Aber in deiner früheren Wohnung stand alles herum – und es war auch nicht unbedingt sauber – oder sehe ich das falsch?«
    Er tastete sich behutsam heran und war beschämt, dass er distanzierend und analysierend fragte. Er hatte ihre Wohnung häufig als chaotisch empfunden. Aber das Chaos erschien liebenswert, so lange es nicht seine Wohnung war.
    »In unserer neuen Wohnung wird alles anders«, sagte sie. »Du willst schließlich, dass alles ordentlich aussieht. Du füllst die Regale wie in einer Bibliothek, ordnest nach Themenbereichen. Wir müssen schon an einem Strang ziehen.«
    »Deshalb diese Batterien von Tüchern und Desinfektionsdöschen?«, fragte er.
    »Wenn du genauer hingeschaut hättest, wüsstest du, dass ich die schon früher hatte.«
    Stephan antwortete nicht. Er hatte Maries Wohnung wegen ihrer Unordnung auch stets als unsauber empfunden. Aber war sie das wirklich gewesen? Anders herum: War sein Ordnungssinn Garant für Hygiene und Sauberkeit? Er wusste, dass es nicht so war. Stephan ging behutsam auf sie zu und umschloss sie mit seinen Armen.
    »Wir regeln alles.« Er sagte das oft, wenn er sich wünschte, dass sich die Probleme lösten, ohne zu wissen, wie sie sich lösen sollten.
    »Bestimmt!«, setzte er nach und streichelte sie.
     
    Sie blieben bis zum Abend in der Hotelanlage, nahmen frische Badetücher aus ihrem Zimmer und belegten zwei Liegen unter einem Sonnenschirm abseits vom Pool. Das Geschrei der im Wasser planschenden Kinder drang hier nicht so störend in ihre Ohren. Zugleich konnten sie den Balkon des Hotelzimmers der Polloscheks aus recht gut getarnter Position im Blick behalten. Doch dort tat sich nichts. Die Balkontür blieb verschlossen, die Vorhänge blieben zugezogen. Die Stühle und den Tisch konnten sie aus dieser Perspektive nicht sehen. Stephan verließ zwischendurch ihren Platz und machte einen Spaziergang durch die ganze Anlage. Die Polloscheks waren nirgends zu sehen.
    Beim Abendessen ließen sich Marie und Stephan Zeit. Sie erschienen pünktlich zur Eröffnung des Buffets und blieben, bis die Kellner begannen, die vielen inzwischen frei gewordenen Tische für den nächsten Morgen einzudecken, und die Geschäftigkeit des Personals nach und nach die wenigen verbliebenen Gäste animierte, das Essen zu beenden und sich zur allabendlichen Unterhaltung auf der Plaza einzufinden. Die Zwillingstürme der Kathedrale thronten majestätisch und blau beleuchtet über den Platz. Die Live-Band spielte ihr übliches Repertoire. Die neu angekommenen Gäste lauschten interessiert, die anderen unterhielten sich.
    Marie und Stephan tauchten in die alltäglichen Abläufe des Villa del Conde ein.
    Von den Polloscheks fehlte jede Spur. Als Marie und Stephan gegen zehn in ihr Zimmer gingen, um sich noch etwas auf den Balkon zu setzen, war die Balkontür im Zimmer der Polloscheks geöffnet. Die Beleuchtung tauchte die Balkonnische in gelblich-milchiges Licht. Der Blick durchs Fernglas verriet, dass das über den Stuhl gelegte Kleidungsstück entfernt war. Der Vorhang hinter der geöffneten Tür bewegte sich sanft im lauen Abendwind. Dahinter war es dunkel. Stephan ließ

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