Endstadium
Stephan sah hinauf auf den dunklen Hang. Es regte sich nichts. Nur links neben der Palme glühte kurz eine Zigarre auf. Stephan ging langsam ins Hotel zurück.
Von dort rief er Marie an. Er erzählte ihr im Detail von den denkwürdigen Gesprächen mit Schürmann und Julita Rosell.
»Hast du ihm von dem Zementwerk mit dem Silo erzählt?«, fragte sie. »Das würde ihn doch interessieren. Dann hat er endlich seinen Beweis.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil Rosell nach wie vor mein Mandant ist«, erklärte Stephan. »Und weil ich ihn deshalb nicht verraten oder Sachen mitteilen darf, die ich über ihn erfahren habe.«
»Was Schürmann erzählt, rundet die Sache natürlich ab«, entgegnete Marie. »Es sieht doch alles nach einem Betrug aus. Wenngleich es natürlich besonders schäbig ist, eine solch furchtbare Krankheit vorzuspielen.«
»Menschen sind so«, sagte Stephan. »Die Gesellschaft ergötzt sich am Leiden. Also muss man das Leiden auch für seine Zwecke einsetzen. Wenn es so ist, wie es scheint, nutzt Rosell die Schwächen unserer Gesellschaft genau richtig.«
»Kannst du Rosell überhaupt noch vertreten?«, fragte Marie.
»Ich kann das Mandat jederzeit niederlegen, wenn ich es will. Aber Tatsache ist auch, dass ich im Moment noch kein weiteres Mandat habe. Du vergisst, dass mein Austritt aus der Kanzlei wirtschaftliche Folgen hat. Und wir haben uns dort auch noch nicht finanziell auseinandergesetzt. Also bin ich froh über Rosells Mandat. Es läuft und bringt Geld.«
Dann berichtete er von seinem Besuch bei Julita Rosell.
Marie unterbrach ihn hastig, als er von Frau Rosells Bitte erzählte.
»Übermorgen? – Das ist ja eigenartig. Übermorgen hat nämlich auch die Praxis von Hobbeling geschlossen.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe heute in der Praxis angerufen und wollte einen Termin bei dem Arzt haben«, antwortete Marie. »Es liegt doch auf der Hand, dass er in die Sache verwickelt ist. Also wollte ich mir diesen Hobbeling mal genauer ansehen und mich wegen lang anhaltender Bauchschmerzen untersuchen lassen. Ich habe der Praxishilfe gesagt, dass ich schnellstmöglich einen Termin haben wolle, und sie hat in den Kalender geschaut. Ich wollte einen Termin für morgen oder übermorgen haben, und sie sagte, dass morgen schon alle Termine vergeben seien und übermorgen der Doktor ortsabwesend sei. – Stephan, das ist doch kein Zufall, oder? Es sieht doch fast so aus, als wolle Frau Rosell unbedingt übermorgen diesen Ausflug machen«. Sie überlegte einen Augenblick. »Schlag ihr einfach vor, einen Tag später ihr Haus zu hüten, dann werden wir sehen, was passiert.«
»Ich habe schon fest zugesagt«, entgegnete Stephan. »Außerdem fällt das auf. Allerdings erscheint mir nun eigenartig, dass sie sich vergewissert hat, dass du zu Hause bist. Sie fragte sogar konkret nach.«
»Siehst du!« Marie war in ihrem Element. »Sie parkt dich bei ihrem Mann und weiß dich gut aufgehoben. Mit mir braucht sie nicht zu rechnen. Also kann sie sich seelenruhig mit Hobbeling treffen. Stephan, weißt du, was das heißt? – Morgen bin ich bei dir. – Besorge dir eine Landkarte von den Kanarischen Inseln!«
Ihre Worte waren schnell geworden. Allein die Aufgabe brachte ihr Energie zurück. So hatte er Marie einst kennengelernt. Sie musste dringend einen Job finden. Die Arbeitslosigkeit zermürbte sie.
Stephan ging zur Rezeption. Das Villa del Conde lag in nächtlicher Ruhe. Die Flamencotänzerinnen waren verschwunden. Einige wenige Gäste saßen noch auf der Plaza und tranken ihr letztes Glas. Die Leuchtstäbe an den Türmen der Kathedrale schimmerten blau-violett in den schwarzen Himmel. Stephan betrat die luxuriöse weite Empfangshalle des Hotels. An der Rezeption arbeitete der Nachtdienst. Ein Spanier mit strahlend weißem Gebiss und Dreitagebart empfing ihn im sorgfältig gebügelten Anzug. Stephan bat um einen Reiseführer von Gran Canaria und eine Übersichtskarte der Kanarischen Inseln. Der Mann nickte höflich, ging in ein Hinterzimmer und erschien mit dem Gewünschten.
»Gute Nacht«, sagte er. »Bitte sagen Sie, wenn die Klimaanlage im Zimmer nicht richtig funktioniert.«
»Nein, danke, es funktioniert alles.«
Stephan ging in sein Zimmer zurück. Oben angekommen, machte er sich mit der Insel vertraut und schlief irgendwann ein.
18
Marie landete am frühen Nachmittag des nächsten Tages auf Gran Canaria. Stephan holte sie mit einem Auto vom Flughafen ab, das er
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