Endstadium
Journalisten, der für das Magazin arbeitet, verboten, noch mal herzukommen. Wir ertragen das alles nicht mehr, Herr Knobel. Möglicherweise wird das ein neuer Fall für Sie! Der Journalist sagt nämlich, er habe mit uns einen Vertrag, das Sterben meines Mannes in gewissen zeitlichen Abständen zu dokumentieren. Er sagt, man könne sich nicht einfach aus dem Vertrag verabschieden. Justus habe sein Sterben an das Magazin verkauft. Wie grotesk das klingt! Der ist doch krank!«
»So ist unsere Gesellschaft«, bemerkte Stephan.
»Kann man sich verpflichten, das eigene Sterben medial begleiten zu lassen?«, fragte Julita Rosell.
»Ich werde es prüfen. – Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte Stephan. »Ich habe nicht nur Ihre komplette Akte hier vor Ort, sondern sogar einen kleinen Zivilrechtskommentar.«
»Sie haben also quasi Ihr Büro hierher verlegt?« Sie schmunzelte. Dann wechselte sie das Thema.
»Was macht Ihre Freundin, Herr Knobel? Ist sie daheim in Dortmund?«
»Ja, sie schreibt Bewerbungen und sammelt Absagen. Es ist frustrierend. Und ich kann ihr an dieser Stelle noch nicht einmal helfen. Germanisten sind im öffentlichen Dienst derzeit nicht gefragt.«
»Kann sie sich nicht selbständig machen?«, fragte Frau Rosell. »Selbständigkeit ist immer besser. Man muss versuchen, sich allen Zwängen zu entziehen, so gut es eben geht. Sie sehen ja, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann. Man muss es genießen, jeden Tag. Ich weiß, das sagen alle. Aber kaum einer hält sich daran.«
Sie füllte nachdenklich Wein nach und schwieg eine Weile.
»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«, fragte sie schließlich.
Stephan sah auf.
»Ich möchte einfach mal für ein paar Stunden hier raus. Wir sind jetzt insgesamt fast drei Wochen hier. Bis auf einige kurze Einkäufe und Gänge zu Dr. Neumann und zur Apotheke habe ich das Haus nicht verlassen. – Verstehen Sie mich nicht falsch! Aber ich muss einfach eine Zeit für mich allein sein und Sonne tanken. Das Leiden meines Mannes raubt mir mehr und mehr die Kraft. Ich muss für ein paar Stunden etwas anderes sehen. Verstehen Sie das?«
»Natürlich!«, versicherte Stephan.
»Meine Bitte ist, während dieser Zeit das Haus zu hüten und meinem Mann zu helfen, wenn er Hilfe braucht. Wahrscheinlich wird das noch nicht einmal nötig sein. Er braucht nur ständig seine Medikamente. Ich sage Ihnen, welche es sind und in welchen Mengen sie gegeben werden müssen. Ich kenne hier vor Ort sonst niemanden, dem ich Vertrauen schenke und der zuverlässig ist. Meine Schwester wohnt weit ab von hier entfernt, und ehrlich gesagt möchte ich ihr diese Situation schon deshalb nicht zumuten, weil sie sich sofort an das Sterben ihres Mannes erinnert fühlen wird, den sie über alles geliebt hat. – Würden Sie mir diesen Wunsch erfüllen, Herr Knobel?«
»Natürlich!«, sagte er wieder. »Wann soll das denn sein?«
»Übermorgen, von halb zwölf bis zum frühen Abend. Nicht länger als 18 Uhr jedenfalls. Ab halb sieben gibt es ja Essen im Villa del Conde. Das sollten Sie nicht verpassen!« Sie sah Stephan aufmunternd an. »Übermorgen wäre der beste Tag. Morgen klappt es nicht, weil ich im Ort noch ein paar Einkäufe machen und insbesondere neue Schmerzmittel holen muss und darüber hinaus unsere Reinigungskraft kommt. Ich muss ihr einige Dinge zeigen, die gereinigt werden müssen. – Also übermorgen. Ist das okay?«
Stephan nickte.
»Sie wollen sich einmal ungestört an den Strand legen?«, fragte er.
»Nein! Ich will einfach mal richtig raus. Dorthin, wo ich all das hier vergessen kann. Dorthin, wo mir der Wind um die Ohren fegt.«
»Sie fahren mit dem Boot raus?«, folgerte Stephan überrascht.
»Ja! – Ich möchte ein paar Stunden dieses Gefühl von Freiheit genießen, die wir uns mit diesem Boot erkaufen wollten. Sie können währenddessen hier das Haus nutzen, als sei es das Ihrige. Essen und trinken Sie, was Sie wollen! Entspannen Sie hier auf der Terrasse und schauen Sie aufs Meer. Oder telefonieren Sie die ganze Zeit über mit Ihrer Freundin in der Heimat oder was auch immer. Sie dürfen hier alles machen, Herr Knobel! – Einverstanden?« Sie zwinkerte erleichtert mit den Augen.
Sie leerten die Flasche und stießen ein letztes Mal an. Stephan verließ kurz vor elf das Haus. Er schlenderte nachdenklich die Straße zurück und erschrak, als plötzlich vor ihm blechern etwas auf die Straße fiel. Er sah genauer hin und erkannte eine zerknüllte Bierdose.
Weitere Kostenlose Bücher