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Endstation Kabul

Endstation Kabul

Titel: Endstation Kabul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Wohlgethan
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verantwortlich und passte ein bisschen auf ihn auf. Eine Fahrt mit Alex und mir würde ihm guttun und den sicheren Lagerkoller vermeiden. Während Wolli mit unseren Fahrern auf dem Hotel-Parkplatz bei den Fahrzeugen blieb, machten Alex und ich uns an die Arbeit. Wir übernahmen je einen Bereich und trugen markante Punkte im Gelände in unserer Karte ein und vermerkten, wo wir einen »Observation Point« (OP), also Beobachtungspunkt, errichten könnten. Nachdem ich mir einen Überblick verschafft hatte, ging ich zurück in Richtung Fahrzeug. Doch auf diesem Weg sollte ich eine folgenschwere Begegnung erleben.
    Es wurden immer mehr Warnungen an uns weitergegeben, wonach Kinder von den verschiedensten Interessengruppen dafür eingesetzt wurden, ISAF-Soldaten zu provozieren und eine Gewaltreaktion hervorzurufen. Im Vorfeld wurde bereits beobachtet, dass an Kinder Plastikwaffen verteilt wurden, echten Waffen in Farbe und Form täuschend ähnlich. Damit sollten die Kinder auf vorbeifahrende ISAF-Fahrzeuge zielen. Gemäß den »Rules of Engagement« hätte der Soldat in so einer Situation das Recht, seine Waffe einzusetzen, um eine tödliche Bedrohung für sich oder Kollegen auszuschließen. Und genau das sollte auch erreicht werden. Sollte dabei ein Soldat der ISAF ein Kind erschießen, wäre das natürlich ein Politikum sondergleichen. Mit unseren abgeplanten, oftmals ungepanzerten Jeeps waren wir natürlich Ziel Nummer eins für solche Provokationsversuche.
    All das schoss mir durch den Kopf, als ich auf dem Weg zurück zum Fahrzeug ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder acht Jahre alt, auf mich zukommen sah. Die Kleine hatte ein undefinierbares Päckchen um den Hals. Aus der Entfernung sah es aus, als wäre braunes Brotpapier darumgewickelt. Unten hingen ein paar Schnüre heraus. Bei mir gingen sofort alle Alarmglocken an. Genau vor solchen Situationen und Bombenkonstruktionen waren wir immer gewarnt worden! Ich versuchte, das Mädchen durch Gestik davon abzuhalten, in meine Nähe zu kommen, was aber nicht klappte. Die Kleine kam weiter lächelnd auf mich zu. Mir schossen in diesem Moment tausend Gedanken durch den Kopf. Eines stand aber von Anfang an fest: dass ich meine Waffe nicht einsetzen würde – und dies vermutlich gar nicht könnte. Alleine der Gedanke daran bereitete mir körperliches Unbehagen. Trotzdem musste ja irgendetwas passieren, und zwar schnell. Also versuchte ich, ihr auszuweichen. Wenn sie einen Schritt nach vorne ging, machte ich einen zurück. Schritt für Schritt hielt ich den Abstand aufrecht, was aber nicht lange von Erfolg gekrönt war. Denn plötzlich stand ich mit dem Rücken an einer Mauer. In meiner Verzweiflung brüllte ich nun dieses Mädchen an: »Stop! Stay where you are!« Tatsächlich blieb sie stehen, was wohl mehr daran lag, dass ich sie so heftig angeschrien, als dass sie mich verstanden hätte. Erschrocken blickte sie über ihre Schulter nach hinten. Ich spähte an ihr vorbei, sah aber niemanden. Nach einem kurzen Zögern setzte sie ihren Weg weiter in meine Richtung fort. Ich wusste nicht mehr weiter: Sie hatte mich mattgesetzt.
    In meiner Not griff ich mir Steine, die dort überall herumlagen, und warf sie grob in die Richtung des Mädchens, versuchte aber, es nicht zu treffen. Beim zweiten oder dritten Stein, der sie knapp verfehlt hatte, rannte sie zum Glück davon. Ich stand paralysiert an der Mauer und schwitzte wie ein Tier. Ich fühlte mich wie durch den Wolf gedreht und hatte auch noch schweißnasse Hände. Erleichterung durchflutete mich, und langsam hörten die Bilder in meinem Kopf auf herumzusirren. Bilder, auf denen das Mädchen mich erreichte, an einer der Schnüre zog und ich von einer Detonation nach hinten gegen die Mauer geschleudert wurde. Ich war mir in diesem Moment absolut sicher, dass das Paket auf ihrer Brust Sprengstoff enthielt und ich dem Tod nur sehr, sehr knapp entkommen war. Nie zuvor und danach habe ich mich so leer und ausgebrannt gefühlt wie an diesem strahlend schönen und sehr warmen Tag in Kabul. Der ganze Einsatz und mein Leben kamen mir nur noch sinnlos vor. Ja, ich ekelte mich geradezu vor mir selbst. Was hätte dieser Einsatz und speziell meiner für einen Sinn, wenn ich gezwungen würde, auf Kinder zu schießen? Wenn diejenigen, für deren Schutz, Zukunft und Sicherheit wir im Land waren, als potentielle Waffen gegen uns eingesetzt werden? Am liebsten wäre ich mit dem Rücken an der Wand heruntergerutscht und ewig so sitzen

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