Endstation Kabul
können. Auch solche Leute, die vor dem Einsatz so gut wie abstinent gewesen waren. Dass es in den PX-Läden mit zollfreien Waren alle Arten von Alkohol unglaublich billig zu kaufen gab, machte die Sache nicht leichter. Ich verstand auch, warum die militärische Führung in der Regel weder bei den Party-Exzessen noch beim schleichenden Alkohol-Konsum vehement einschritt. Sie hätten ansonsten nämlich gut ein Drittel der Truppe, wenn nicht noch mehr, nach Hause schicken müssen. Man duldete den Alkohol, damit die Soldatinnen und Soldaten beschäftigt und zufrieden waren.
Die Alkohol-Exzesse bei anderen Nationen mit mehr Auslandseinsatzerfahrung hielten sich dagegen in Grenzen. Ich hörte nur vereinzelt von ausländischen Soldaten, die über die Stränge geschlagen hatten. Ich kann nicht sagen, woher das unterschiedliche Verhalten im Umgang mit Alkohol kommt – ob die anderen ISAF-Nationen den Konsum strenger kontrollierten und bestraften oder ob es an den besseren Freizeitmöglichkeiten lag. Das Freizeitangebot für die deutschen Teile war zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht sehr üppig. Später gab es im Camp sogar ein Fitnesszelt, so groß wie eine Turnhalle mit Steppgeräten, Hantelbänken, Laufbändern und allem Pipapo. Sogar isotonische Durstlöscher wurden dort an einer Theke ausgeschenkt. In einem abgetrennten Bereich wurden abends Filme auf einem Beamer gezeigt. Doch während meiner Zeit beschränkten sich die Möglichkeiten auf die »Drop Zone«, eine Art bewirtschafteten Gemeinschaftsraum zum Zusammensitzen und Klönen. Außerdem konnte man den Joggingweg benutzen und zur Abwechslung bei den Betreuungseinrichtungen anderer Nationen vorbeischauen, das war’s schon.
Freizeit war für die deutschen Kräfte vielleicht auch deshalb nicht so wichtig, weil ein guter Teil der Soldaten nur dreißig Tage Einsatz in Afghanistan leistete. Denn nach diesen dreißig Tagen bekommt man bei der Bundeswehr eine Einsatzmedaille. Und die ist mehr als hilfreich, wenn man in der militärischen Hierarchie nach oben kommen will. Diese »Dreißig-Tage-Offiziere« waren natürlich nicht so eingebunden, dass sie jeden Tag Vollgas geben mussten. Meist wurden sie auf sogenannten z. b. V.-Stellen eingesetzt, also »zur besonderen Verfügung«. Dann konnte ein hoher Offizier schon mal auf einer Kraftfahrer-Stelle sitzen. Doof nur, dass diese Stelle damit praktisch unbesetzt war. Oder glauben Sie, dass so ein Offizier einen ordentlichen Kraftfahrer abgibt? Ein anderer, einfacher Soldat muss seinen Job also zusätzlich übernehmen.
Diese Praxis führte zu manch grotesken Situationen und Mehrfachbefehlen. Oft ging wichtige Zeit verloren, da mancher Soldat zwei bis drei widersprüchliche Befehle erhielt und erst mal nachfragen musste, welcher denn nun Vorrang hatte bzw. letztendlich ausgeführt werden sollte. Bei meinem zweiten Afghanistaneinsatz in Kunduz wurde diese Praxis meiner Meinung nach auf die Spitze getrieben. Ein Oberstleutnant stellte sich dort vor seine angetretene Truppe hin und sagte uns frank und frei, dass er eigentlich nur hier sei, um die Einsatzmedaille zu erhalten. Nach der dafür nötigen Zeit würde er das Land umgehend wieder verlassen. Was natürlich keine sehr große Motivation für die Soldaten war.
Anfang Mai häufte sich der Besuch von »Gefechtsfeldtouristen«. Es kamen eine Menge Politiker, Generäle und Obristen der verschiedensten Truppengattungen ins Land, um ihren dort eingesetzten Soldaten einen Besuch abzustatten. Oft blieben sie nur einen Tag. So musste man auch nicht lange unbequem in Zelten auf Feldbetten schlafen. Der organisatorische Aufwand, der für diese Besucher betrieben wurde, war enorm. Zum Teil wurden Wege nur angelegt, damit die VIPs trockenen Fußes von A nach B kamen. Schon Wochen davor ging der Stress los. Soldaten wurden zur Sicherung von Touren durch die Stadt abgestellt, mussten schicke Präsentationen erstellen und den Sermon der Politiker über sich ergehen lassen. Der eigentliche Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan litt zwangsläufig darunter, und es kam zu einer sehr starken Mehrbelastung der eingesetzten Soldaten. Besonders am Tag des Besuchs. Da wurde zum Beispiel das Verpflegungszelt geschlossen und die Tische wurden eingedeckt, wie man es sonst nur in einem Fünf-Sterne-Hotel sieht. Waschcontainer wurden, nachdem man sie auf Hochglanz poliert hatte, komplett geschlossen, damit die VIPs, teilweise nur eine Person, bloß nicht mit den Soldaten zusammen im Bad stehen
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