Endstation Kabul
Lied bei vielen auslöste. Ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Fast im gesamten Lager herrschte Totenstille, wenn dieses sehr geschichtsträchtige Lied begann. Schon mein Opa hatte im Zweiten Weltkrieg seine Erfahrungen mit diesem »Lied eines jungen Wachposten« für die Soldatenbraut »Lili Marleen« gemacht. Als ich es selbst zum ersten Mal im Camp hörte, konnte ich verstehen, warum damals wie heute sich die Soldaten um die Empfänger drängten, um dieses Lied zu hören. Nicht aus falsch verstandenem Patriotismus oder Ehrgefühl, sondern einfach aus einem Zusammengehörigkeitsgefühl heraus. »Lili Marleen« war etwas Besonderes, es schweißte uns zusammen. Generationen von Soldaten vor uns hatten sich bei diesem Lied an die Lieben daheim erinnert, und so passierte es auch hier, im Wüstensand von Kabul. Obwohl es ehrlich gesagt ein sehr kitschiges Lied ist, traf es den Nerv der Soldatinnen und Soldaten – und das jeden Abend aufs Neue. Eine melancholische, fast sakrale Stimmung breitete sich über das Lager, wenn wir zusammensaßen und uns Lale Andersens Lied anhörten unter dem beeindruckenden Sternenhimmel von Kabul. Zu Hause hätte ich bei diesem Song wahrscheinlich am Radio den Sender verstellt, aber im Einsatz entwickeln sich ganz eigene Gesetze und Regeln. Meine Liebe zu »Lili Marleen« ging sogar so weit, dass ich meine niederländischen Kameraden bei den Kommandotruppen, zu denen ich später versetzt wurde, damit ansteckte. Wenn wir bei Operationen manchmal über Nacht in den Bergen unterwegs waren, bauten wir uns aus Kabeln eine Dipol-Antenne. Die richteten wir in Richtung Camp und hörten das schnulzige Lied über unsere »Headsets«. Auch meine niederländischen Kollegen konnten sich dem ganz eigenen Charme dieses Liedes nicht entziehen. Auch Kleinigkeiten können eben einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterlassen.
Falsche Waffen und
ein echter Raketenbeschuss
Nach der Mai-Party und den hohen Besuchen war bei Alex und mir wieder Routine angesagt. Hauptsächlich trieben wir uns in den nächsten Tagen in Kabul herum. Im Auftrag der internationalen Offiziere in der OPZ erkundeten bzw. überprüften wir die verschiedensten Örtlichkeiten in der Stadt. Dies rückte deshalb in den Fokus, da sich am Horizont bereits die Loya Jirga abzeichnete, die Anfang Juni für eine Woche stattfinden sollte und immens wichtig war. Die Loya Jirga ist eine traditionsreiche große Ratsversammlung, die zur Klärung nationaler Fragen abgehalten wird. Sie geht zurück auf eine mongolische Tradition und ist wohl über tausend Jahre alt. Auf dieser Versammlung sollten nach dem Sturz der Taliban die Interimsregierung dieses Landes gewählt und somit die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Dazu kamen etwa 660 bis 700 Delegierte der verschiedensten Distrikte und Ethnien in Kabul zusammen, übrigens das erste Mal seit siebzehn Jahren. Vieles hing von der Wahl ab, auch unsere Sicherheit.
Die quälendsten Fragen waren: Was passiert, sollte es zu Ausschreitungen während der Versammlung kommen? Wie verhindern wir mögliche Anschläge und wer könnte ein mögliches Ziel sein? Auf wessen Seite würden sich die Warlords schlagen, die durch ihre militärische Stärke tatsächlich die Macht im Lande hatten? Mir lag bei all diesen Fragen ein großer, schwerer Stein im Magen. Immerhin war ich an der Aufklärung der möglichen Evakuierungsrouten beteiligt gewesen und wusste, wie schwierig, wenn nicht unmöglich ein schneller Abzug aus dem Land wäre, sollte der »Falsche« diese Wahl gewinnen. Dem Hotel Interconti galt unser besonderes Augenmerk, weil dort etliche Delegierte und westliche Medienbeobachter untergebracht sein würden. Wir fuhren also mit zwei Fahrzeugen, wie es Vorschrift war, die zwölf Kilometer zum Hotel und sahen uns die nähere Umgebung an.
An diesem Tag hatten wir Wolli als »Backseater« dabei. Mein Zelt-Mitbewohner war eigentlich Profi für Kommunikationssysteme und das typische Beispiel für die Logik der Bundeswehr. Da ein Offizier, für den es keine Verwendung gab, auch nach Kabul wollte, hat man ihn auf der Stelle von Wolli geparkt, der dann irgendwie anders beschäftigt werden musste. Nun war Wolli ein herzensguter Mensch, aber als Kommunikationsexperte alles andere als ein »kampffähiger« Soldat. Entsprechend orientierte er sich ein wenig an mir, und ich brachte ihm die allernötigsten Sachen bei. Ich wurde eine Art großer Bruder für ihn, fühlte mich für ihn
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