Endstation Kabul
sah viele imposante Bilder des Hotels aus den Siebzigern; auch berichtete mir ein alter Hotelportier, mit Wehmut in den Augen, aus diesen Zeiten. Eine vergessene Ära, erzählt mit dem sentimentalen Blick eines alten Mannes. Dreiundzwanzig Jahre später war von diesem einstigen Glanz nichts übrig. Dreiundzwanzig Jahre Krieg, Bruderkrieg und Zerstörung hatten auch dieses Hotel und den bärtigen alten Portier zugrunde gerichtet. Ich hatte Mitleid mit dem alten Kämpen und brachte ihm, wann immer wir im Hotel vorbeikamen, irgendwelche Leckereien oder Zigaretten mit.
Etwa Mitte Mai erhielten Alex und ich nun auch offiziell den Titel »z. b. V.« – zur besonderen Verfügung. Wir hatten keinen normalen Dienstbetrieb mehr, sondern waren nur noch für Sonderaufgaben da. Wir ergänzten uns hervorragend, die Herausforderungen und die gemeinsame Arbeit machten mir großen Spaß. Besonders die Abteilung 2 forderte uns immer wieder für die verschiedensten Aufträge an. Diese »J2« genannte Abteilung ist für das militärische Nachrichtenwesen innerhalb der Bundeswehr zuständig. Die Feindlage und die Aufklärung sind ihre wichtigsten Aufgaben. Sie verwaltete die Ressourcen für elektronische Aufklärung wie Radar und die »Humint« genannte Gesprächsaufklärung und hielt Verbindung zu den verschiedensten auch internationalen Diensten. Die Aufgaben dieser Abteilung waren besonders brisant und unterlagen meist besonderer Geheimhaltung. Zum Glück gab es so viele Baustellen, dass wir uns bei der Vorstellung der Aufträge die interessantesten herauspicken konnten. Bei dieser Gelegenheit fiel mir wieder auf, dass jede Menge Locals ständig unbeaufsichtigt durch das Lager flitzten. Mir gefiel das überhaupt nicht. Eines Tages sah ich eine Gruppe von drei einheimischen Arbeitern den Müll durchwühlen. Dies war leider kein ungewöhnlicher Anblick, weil diese armen Menschen wirklich alles verwerteten, was sie fanden. Als einige Soldaten stolz ihre auf dem Markt gekauften Satellitenschüsseln vorzeigten, sah man noch an der Rückseite, woraus diese hergestellt worden waren: aus aufgeschnittenen und plattgedrückten Cola-Dosen. Der Erfindungsreichtum dieser Menschen, aus dem Mangel geboren, war sagenhaft.
Die Wache drückte oft ein Auge zu, wenn die Locals Plastiktüten oder Pappen aus dem Camp mit nach Hause nahmen, um ihre Hütten abzudecken, obwohl das verboten war. Nachdem ich aber bemerkte, wie die Locals zum Teil gezielt einzelne Papiere aus dem Abfall zogen, ging ich zu ihnen hin und verlangte zu sehen, was sie sich unter den Nagel gerissen und in ihren Plastiktüten verstaut hatten. Zuerst mauerten sie und wollten klammheimlich verschwinden. Das ließ ich aber nicht zu und wurde lauter. Widerwillig übergaben sie mir die Tüten. Darin waren sehr viele weggeworfene Briefumschläge, natürlich mit den Absendern aus Deutschland darauf. Mir wurde ganz flau im Magen, und dann wurde ich richtig sauer. Wenn die Afghanen uns Soldaten in den Hintern treten wollten, konnte ich das noch verstehen. Aber wenn jemand offenbar gezielt versuchte, an die Familien zu Hause heranzutreten, hörte bei mir der Spaß auf. Ich meldete den Vorfall beim Stab. »Ja«, bekam ich zu hören, »diese Praxis ist uns bekannt.« Es seien nämlich offensichtlich von Afghanen geschriebene Zettel mit korrektem Namen und Dienstgrad an verschiedenen Fahrzeugen im Camp gefunden worden. Auf diesen Zetteln hätten Aufforderungen gestanden, etwa »Verlasst unser Land« und ähnliche Dinge. Ich dachte, ich höre nicht recht. Das Problem war schon längst bekannt, und keiner war auf die Idee gekommen, die Soldaten zur Vernichtung ihrer Briefumschläge aufzufordern? Es hätte ja gereicht, den Bereich mit der Adresse herauszureißen und zu verbrennen.
Weil die Führung die Bedrohungslage offensichtlich immer noch unterschätzte, achtete ich in den nächsten Tagen besonders auf die Art und Weise der Müllentsorgung und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass sogar Mülleimer aus der OPZ durchwühlt wurden. Manche Kollegen schmissen auch, offensichtlich ohne groß nachzudenken, wichtige Mitteilungen oder Meldungen in den Mülleimer, im Vertrauen darauf, dass der Inhalt verbrannt würde. Allerdings wurde der Müll nicht von deutschen Soldaten herausgebracht, sondern von Locals. Auf der Treppe steckten sich diese Männer schnell eine Handvoll Zettel in die Tasche, und schon hatten wir den Salat. Mir war auch schleierhaft, warum sich manche deutsche Soldaten Namensschilder
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