Endstation Mosel
Prasseln aufhörte, steckte er die Unterlagen in seine Jacke. Später musste er noch zweimal den Lageplan hervorkramen, um sich beim Umkreisen der Klosteranlage zu orientieren. Dabei fielen ihm die gestrichelten Linien auf, die er ursprünglich für Wege gehalten hatte. Sie verliefen in der Regel schnurgerade und deckten sich nur selten mit denen im Gelände. Walde vermutete, es könnte sich um Verbindungstunnel zwischen den Gebäuden handeln. Damit hätte er auch eine Erklärung dafür, warum ihm hier draußen kaum jemand begegnete.
Als Walde zum Haupteingang zurückkam, hatte sich nichts an der Szenerie geändert. Um die beiden Taufbecken stiegen weiter Rauchzeichen gen Himmel.
Walde setzte sich in den Wagen, betrachtete erneut den Lageplan und widmete sich dann dem Grundriss des Haupthauses. Er glich einem Labyrinth. Da, wo sich das Kloster befand, war nur eine weiße Fläche eingezeichnet.
Walde schaute wieder zum Eingang. Er war überrascht und schaute nochmals hin. Dort stand Harry inmitten der Nikotinabhängigen. Nein, eine Kippe hatte er nicht in der Hand. Er unterhielt sich angeregt mit einem alten Mann in längs gestreiftem Bademantel und Lederpantoffeln.
*
Lilian Goedert legte erst am späten Vormittag ihren Schmuck an. Ohne ihn zeigte sie sich nie in der Öffentlichkeit. Selbst ihren engsten Angestellten gegenüber war das nicht anders. Lieber wäre sie ohne Zähne aufgetreten. Aber das erübrigte sich, seitdem sie sich in den Staaten die sündhaft teuren Implantate hatte einsetzen lassen. Sie war bester Stimmung, obwohl ihre ersten Gedanken eher zur Sorge Anlass gegeben hätten.
Als sie die Luke öffnete, hörte sie den vertrauten Klang des Außenborders. Gleich darauf signalisierte ihr eine leichte Erschütterung, dass das Schlauchboot angelegt hatte.
Hemp kam an Bord. Sicher brachte er Croissants mit.
Lilian Goedert trug ihre Tagescreme auf. Ihre Gesichtshaut war für ihr Alter immer noch erstaunlich straff. Sie war heilfroh, dass sie nie zu den übermäßigen Sonnenanbeterinnen gehört hatte. Das Blubbern der Kaffeemaschine aus der Kombüse hob ihre Laune noch weiter. Erst jetzt bemerkte sie den Grund für ihr Wohlbefinden. Sie hatte keine Schmerzen. Heute war der erste Tag seit gut einem halben Jahr, an dem sie vollkommen schmerzfrei aufgewacht war.
»Bonjour Madame«, wurde sie von Hemp begrüßt. Er war wie immer auf seine Art freundlich, ohne nur die Spur servil zu wirken. Sicher hatte er schon ein herzhaftes Frühstück hinter sich. Ein so kräftiger Mann wie Hemp machte sich nichts aus Croissants mit Marmelade. Wahrscheinlich hatte er in seinem Wohnwagen, der nicht weit von hier auf einem Campingplatz bei Cochem stand, gefrühstückt. Vielleicht war er aber auch die ganze Nacht unterwegs gewesen.
Sie kannte Hemp nun schon seit beinahe fünfundzwanzig Jahren. In dieser Zeit hatte er sich kaum verändert. Nach wie vor kämmte er seine roten Haare sorgfältig von allen Seiten über seine Glatze. Hemp war übergewichtig, bewegte sich in einem gemächlichen Seemannsgang und sprach ebenso gedehnt. Doch wenn die Situation es erforderte, konnte Hemp zeigen, dass er trotz seiner knapp sechzig Jahre immer noch fit und durchtrainiert war.
Als ihr Mann ihn damals eingestellt hatte, war er noch eine Art besserer Schrotthändler gewesen und hatte mit Antiquitäten aus Metall vom Gussofen bis zum Messingbett gehandelt. Nach und nach wurde er zum Vertrauten der Familie. Nach dem Tod ihres Mannes übernahm Hemp den Job als Mann für alles, als Kapitän, Hausmeister, Jagdhelfer, Bodyguard und Privatsekretär.
Auch wenn er nie einen Hehl daraus machte, dass er ohne gute Bezahlung keinen Finger krümmen würde.
»Morgen, Hemp.« Sie nahm am gedeckten Tisch Platz.
Hemp schenkte Kaffee ein und reichte ihr den Korb mit Croissants: »Gut geschlafen?«
»Du weißt doch, bevor diese Sache nicht aus der Welt geschafft ist, kann ich kaum ein Auge zumachen.«
»In Nancy brauch’ ich mich nicht mehr blicken zu lassen. Die haben Wind von der Sache gekriegt.«
»Aber bei hunderttausend Schweizer Franken?«, fragte sie erstaunt.
»Es ist doch schei …«, er korrigierte sich, »shitegal, ob man für hunderttausend oder eine Million ins Gras beißt.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, ich muss mich woanders umsehen.«
»Und was haben deine Leute in Trier in der Zeitung angestellt?«
»Ich sollte den Trotteln noch den Unterschied zwischen einem Bildschirm und einem Computer erklären. Die dachten, sie
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