Endstation Nippes
geschrieben worden. Jetzt hatte Frau Grimme – ich war mir sehr sicher, dass sie es war – mit einem Kuli weitergemacht.
Der Junge ist böse. Der Junge muss bestraft werden. Der Junge ist unhöflich. Er kann nicht richtig sprechen. Seine Mutter ist eine schlechte Frau. Der Junge hat das Schlechte von seiner Mutter geerbt. Er kommt aus schlechten Verhältnissen. Ein Junge wie er kann nicht unterscheiden zwischen Gut und Böse. Einer wie er fühlt keinen Schmerz.
Ich sah Marco vor mir. Sein versteinertes Gesucht, den starren Körper, die panischen Augen. Hörte Frau Grimme sagen: »Der Junge, den ich jetzt in Pflege habe, ist schwersttraumatisiert. Er wurde missbraucht. Er ist Bettnässer. Er ist fast katatonisch.« Ich merkte, dass ich schon die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Atmete langsam aus. Sagte mir: »Das kann nicht sein. Das ist Quatsch!«
Er tut es mit dem Jungen. Er bringt andere Männer mit. Die anderen Männer bezahlen die Frau. Der Frau geht es nicht um Geld. Sie hat Geld. Sie ist wohlhabend. Sie kommt aus gutem Hause. Sie ist nicht schmutzig! Der Junge ist schmutzig! Wenn der Junge weint, lügt er. Jungen mögen es, wenn ein Mann es mit ihnen macht. Der Junge macht in die Hosen. Der Junge erbricht sich. Der Junge ist schmutzig. Die Frau muss den Jungen einsperren, denn er will vor den Männern weglaufen.
Der Junge kann nicht in die Schule gehen, bis alles wieder verheilt ist.
Weit entfernt klingelte etwas nervtötend. Ich begriff: Es war mein Handy. Ließ es läuten. Es waren nur noch drei beschriebene Seiten in dem Buch. Ich blätterte um.
Die Männer mögen es, wenn die Frau zusieht. Der Junge muss genäht werden, sagt er. Der Junge ist schmutzig, erwidert die Frau, er muss bestraft werden. Die Männer lachen. Sie machen es gleich noch einmal mit ihm. Da ist der Junge schon ohnmächtig. Die Frau weckt ihn. Er soll nicht flüchten, wenn er bestraft wird.
Die Lehrerin fragt, wo der Junge bleibt. Die Frau muss etwas unternehmen. Der Junge muss noch einmal zur Schule gehen. Bald sind Ferien. Dann stellt die Lehrerin keine Gefahr mehr da.
Die Schrift wurde immer kleiner und schwer zu lesen. An einer Stelle hatte sie den Kuli so stark auf das Papier gedrückt, dass es durchgerissen war. Ich zwang mich, weiterzulesen.
Die Frau weiß nicht mehr weiter. Er sagt: Man kann ihn bald nicht mehr zusammenflicken. Du musst ihn loswerden. Die Frau bringt den Jungen zur Schule. Die Lehrerin sagt: Der Junge muss zum Psychologen. Die Frau hat Angst. Die Frau weiß nicht mehr weiter. Er sagt: Du bist unfähig! Du bist abstoßend! Du bist zu nichts nütze. Er wird böse. Er wird sehr böse. Er schlägt die Frau.
Der Junge ist böse. Der Junge macht Schmutz. Die Frau sperrt den Jungen in den Keller. Die Frau sagt dem Jungen, dass er im Keller bleiben muss, wenn er sich in der Schule schmutzig macht. Der Junge weint. Die Frau kann den Jungen nicht mehr ertragen. Noch zwei Tage. Dann beginnen die Ferien. Die Frau wird ihm beweisen, dass sie zu etwas nütze ist.
Die letzten Zeilen waren kaum noch zu entziffern. Ich blätterte hastig um.
Der Junge ist fortgelaufen. Ich weiß nicht, wie ihm das gelingen konnte. Ich muss ihn finden, ich muss ihn finden! Gott, hilf mir, ihn zu finden!
Ich legte das Buch auf den Tisch, mein Kiefer schmerzte, ich nahm die Zähne auseinander. Stand auf, ging ans Fenster und steckte mir eine Kippe an. Starrte auf die Birke und versuchte, meinen klaren Verstand zu reaktivieren.
Warum hatte diese Frau das Notizbuch bei mir versteckt? Gut, ohne den Zufall, dass mir das Ölfläschchen runtergefallen war, hätte ich es vermutlich nie entdeckt. Und sie hätte es sich, unter dem Vorwand, mir noch etwas erzählen zu müssen, jederzeit zurückholen können. Aber warum hatte sie es überhaupt aus der Hand gegeben? Wollte sie es nicht mehr in der Wohnung haben? Hatte sie Angst, jemand könnte es dort entdecken? Wer denn? Die Polizei? Der würde sie doch sicher die gleichen Schmonzetten erzählen wie mir. Und sie würde ihr glauben. Wer käme schon auf die Idee, dass diese reizende Dame einen kleinen Jungen als Sexsklaven hielt und an Männer verkaufte?
Ich kam nicht weiter. Das Dringlichkeitsgefühl und die Angst, die ich empfand, machten mich zusehends nervös.
»Aber warum«, schaltete sich mein Verstand wieder ein, »bist du dir so sicher, dass Marco dieser Junge ist? Steigerst du dich vielleicht gerade in etwas rein, das mit der Realität nichts zu tun hat, Katja Leichter? Nur weil
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