Endstation Nippes
den Musik- CD s, die ich mir für das Feature anhören wollte, da klingelte das Telefon erneut.
»Engelhardt«, sagte eine angenehme Stimme, »Nele hat mir erzählt, Sie wollten mich sprechen. Ich bin die Pflegemutter von Jessica.«
»Oh!«, entfuhr es mir. »Äh, danke, dass Sie anrufen«, schob ich hinterher. Ich erzählte ihr, worum es ging und wozu ich dieses spezielle Interview brauchte.
»Sie sind Journalistin?
»Genau.«
Schweigen. Dann: »Nele sagte, Sie wären … äh, Ihre Freundin?«
»Ja.« Ich ließ meinen Rollladen runter. Warum hatte Nele behauptet, die Frau sei klasse?
»Darf ich fragen, äh, wie das kommt?«
»Ganz einfach. Weil sie ein wunderbarer Mensch ist.«
Das musste sie jetzt erst mal verdauen.
»Nun, Jessica hat nicht ganz so wunderbare Erfahrungen mit ihr gemacht.«
»Richtig. Das weiß Nele auch. Und sie leidet entsprechend darunter.« Ich langte nach der Zigarettenpackung. »Sie leidet darunter, dass sie Jessica Leid zugefügt hat. Dass sie damals nicht in der Lage war, sich so zu verhalten, wie sie sich gerne verhalten hätte. Aber um das zu verstehen, muss man etwas von Sucht verstehen.«
»Und das tun Sie?« Samtweiche Stimme, von Ironie getränkt.
»Genau.« Ich hätte große Lust gehabt, einfach den Hörer aufzulegen. Aber ich wollte Nele nicht schaden, und ich brauchte das Interview. Und außerdem erhoffte ich mir ein paar Infos von ihr.
»Dann muss ich ganz direkt fragen: Sind Sie drogenabhängig?«
Jetzt reichte es mir. »Ja klar. Die meisten WDR -Autoren sind schwerstabhängig. Die einen von Koks, die andern von Heroin. Ich brauche beides. Aber zum Glück haben wir im Funkhaus auf jeder Etage einen Spritzenautomaten. Und in der Kantine haben wir jetzt endlich auch einen Druckraum.«
Ich dachte schon, sie hätte eingehängt, als sie – sehr leise – sagte: »Entschuldigung.«
»Warum stellen Sie mir solche Fragen?«
»Weil ich nicht möchte, dass jemand ins Haus kommt, der Jessica an ihre Mutter erinnert. Ich versuche seit Jahren, ihr Nele … wie soll ich sagen? … näherzubringen. Aber sie will nichts von ihr wissen. Sie wird sehr wütend, wenn ich Nele nur erwähne. Und sie droht jedes Mal damit, wegzulaufen, wenn Nele zu Besuch kommen will. Und wenn sie dann tatsächlich kommt, ist es immer ganz schrecklich. Für Jessica.« Sie schluckte hörbar. »Und anscheinend auch für Nele.«
Jetzt musste ich schlucken. Ich hatte immer gedacht, Nele würde Jessies Abwehr stärker empfinden, als sie vielleicht gemeint war.
»Ich habe Nele kennengelernt, weil sie eine Mandantin meines Bruders war. Der ist Anwalt. Nele hat ihm gesagt, sie möchte Meditation lernen. Und da ich Buddhistin bin …«
»Sie sind Buddhistin? Welche Richtung?«
»Tibetisch. Karma-Kagyü.«
»Ach nein! Wir sind Nyingma!«
»Ah.«
»Wann möchten Sie denn kommen?«
»Am besten gestern. Ich bin zeitlich total im Verzug. Hätten Sie denn morgen Vormittag Zeit?«
»Warten Sie.« Ich hörte, wie sie aufstand, eine Schublade öffnete und mit Papieren herumraschelte. »Wir wohnen in Stommeln. Äh, aber das wissen Sie ja sicher.« Erneutes Rascheln. »Wenn Sie die Regionalbahn um acht Uhr neunundfünfzig nehmen, sind Sie um neun Uhr sechzehn da. Ich hole Sie am Bahnhof ab.«
Das war mir viel zu früh, aber ich nahm das Angebot natürlich dankend an.
Die Mailbox meines Handys jaulte, und Stefan bat mich um einen Rückruf. Wir vereinbarten, dass er am Abend zu mir kam. »Südstadt ist mir jetzt grade zu weit weg«, erklärte ich ihm. »Ich möchte in der Nähe von Chantal bleiben.«
Das sah er ein. Fragte, ob er vom vietnamesischen Imbiss auf der Neusser etwas mitbringen sollte. Beim Gedanken an Essen begann mein Magen so laut zu knurren, dass Rosa, die es sich verbotenerweise auf dem Drucker bequem gemacht hatte und ihn wieder einmal mit Haaren versaute, erschrocken aufsah.
»Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen«, belehrte ich sie. Ich auch nicht, übersetzte ich ihren Tiger-lauert-auf-Beute-Blick.
Ich machte uns beiden etwas. Sie bekam Rindergulasch und ein Schälchen frisches Wasser, ich zwei Käsestullen, ein Glas Ananassaft, eine Birne und einen Riegel Bitterschokolade. Fünfundachtzig Prozent. Ich habe irgendwann vor Jahren mit Feinbitter angefangen und bin im Laufe der Zeit zur Hardcore-Userin geworden. Vollmilch wirkt auf mich wie verdünntes Methadon auf einen alten Junkie. Ich aß erst einmal in Ruhe auf, machte mir dann noch einen Espresso, steckte mir eine Kippe
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