Endstation Nippes
viel. Ich habe George gebeten, mir Unterlagen zu besorgen. Er sagt, er faxt mir alles, was er bekommen kann.«
Ich dankte ihr aus ganzem Herzen und erinnerte sie daran, dass wir am nächsten Morgen um zehn verabredet waren.
»Habe ich schon gesagt, dass ich drei Croissants von der Bäckerei in der Kuenstraße möchte?«
Na super, ich laufe ja morgens vor dem Frühstück so gern quer durchs Viertel.
Aber für Mary tu ich fast alles. Also salutierte ich dem Telefonhörer. »Aye, aye, Ma’am!«
Auf der Homepage von F.I.C. waren zwei Kinder zu sehen, ein Junge und ein Mädchen in kurzen Kakihosen und leuchtend blauen T-Shirts. Sie verzogen beide den Mund zu einem Lächeln, im Blick ihrer aufgerissenen Augen aber lag eine herzzerbrechende Abgestumpftheit. Mir drehte sich der Magen um. »Chivan und Chhai lebten auf dem Müllberg von Phnom Penh«, las ich. »Die neunjährigen Zwillinge sind Waisen. Sie schliefen zwischen Ratten und ernährten sich von verrotteten Essensresten. Dann kamen die Menschenhändler. Sie erzählten den Kindern, dass sie ihnen zu einem guten Leben verhelfen würden. Zu einem Leben, in dem sie auf einer Matratze in einem richtigen Haus schlafen würden und gutes Essen bekämen. Die Kinder glaubten und vertrauten den Männern. Und landeten in thailändischen Bordellen, in denen sie Prostitutionstouristen – auch deutschen – zu Diensten sein mussten.«
Es folgte ein Foto, auf dem mehrere Kinder scheu und verstört in die Kamera starrten. Sie standen auf einem Rasen vor einem Steinhaus, in dessen Fenstern bunte Vorhänge flatterten. »In Kambodscha erleiden Tausende Kinder das Schicksal von Chivan und Chhai«, ging der Text weiter. »Sie werden von ihren eigenen Eltern oder von den korrupten Direktoren staatlicher Waisenhäuser an Menschenhändler verkauft. Und häufig werden sie auch direkt auf der Straße gekidnappt oder mit falschen Versprechungen gelockt.« Auf dem nächsten Foto war eine holprige Straße mit mehreren Schlaglöchern zu sehen. Im Hintergrund Wellblechbaracken, im Vordergrund ausgemergelte Gestalten, die am Straßenrand hockten. »Die Armut in Kambodscha«, fuhr der Text fort, »ist so groß, dass die meisten Menschen dem Schicksal dieser Kinder gleichgültig gegenüberstehen.« – Absatz, und dann in Großschrift: »Wir nicht! F.I.C. ist eine Organisation, die es sich zum Ziel setzt, unschuldige Kinder, die zur Prostitution gezwungen wurden, aus ihrem Elend zu befreien. Helfen Sie uns zu helfen!«
F.I.C. , erfuhr ich, kaufte Kinder aus thailändischen Bordellen frei und brachte sie in einem Heim in der Nähe von Phnom Penh unter. Dort wurden sie pädagogisch und psychologisch betreut, bekamen eine Schulausbildung »und somit gute Startchancen für ein neues, ein besseres Leben«.
Ich scrollte weiter nach unten, aber da war nichts mehr. Es gab keinen Link zum Team, zum Heim, zur konkreten Arbeit der Organisation oder sonstigen Informationen. Man konnte nur noch das Spendenkonto und das Impressum anklicken. Das gab einen oder eine A. Salieri als verantwortlich für den Inhalt an. Und eine Adresse in einem Ort, der sich, als ich ihn auf der Landkarte suchte, als ein kleines Kaff südlich von Phnom Penh herausstellte.
Ich rief noch mal Mary an. Besetzt. Ich versuchte es im Drei-Minuten-Takt, aber nach einer guten halben Stunde war noch immer besetzt.
»Häng ein, Mädchen!«, flehte ich, aber sie erhörte mein Flehen nicht. Dafür knurrte mein Magen. Ich sah im Kühlschrank nach, fand eine angeschimmelte Tomate, eine Packung Tilsiter mit historischem Ablaufdatum und sonst nichts. Nada. Niente. Dabei fiel mir ein, dass ich Eis für den Nachtisch heute Abend kaufen musste. Okay, dachte ich, dann mache ich jetzt direkt den überfälligen Großeinkauf. Aber einmal wenigstens wollte ich es noch bei Mary versuchen.
Sie ging dran. »Mary«, fing ich an, aber sie unterbrach mich sofort.
»Ah, Katja, that’s great! Listen!« Und dann fragte sie mich, ob ich klassische Musik mag.
»Hör mal, Mary, lass uns darüber ein andermal reden, ja? Ich muss jetzt …«
»Weißt du, wer Antonio Salieri ist?«
»Ach, Antonio heißt er. Ich hab mir den Typen auch gegoogelt. Darüber will ich ja mit dir reden. Diese Website ist nicht koscher, Mary. Da findest du nur …«
»Exactly! That’s the point, love.«
Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr so viel Englisch reden hören. Das tut sie nur, wenn sie sehr, sehr aufgeregt ist.
»Antonio Salieri war ein Komponist von dem Kaiser in
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