Endstation Nippes
Blick. Überlegte panisch, ob ich die Kinder nehmen könnte. Ob ich sie Gitta aufschwatzen könnte. Oder meiner Mutter …
»Die Chantal«, sagte Hotte leise vom Fenster her, »die tät ich nehmen. Mit der komm ich gut klar. Das is ‘ne Fitte. Aber der Marco …« Er drehte sich um. Starrte schweigend aus dem Fenster.
Ich konnte es ihm nachempfinden. Marco war eine Überforderung für jeden, der nicht über unerschöpfliche Geduld, große Erfahrung mit Kindern und eine angeborene psychologische Begabung verfügte. Und er war eine hoffnungslose Überforderung für jemanden wie Hotte, der noch nicht einmal auf ein Mindestmaß an väterlicher Kompetenz zurückgreifen konnte. Ich hatte es nur nicht sehen wollen. Wir hatten es alle nicht sehen wollen.
»Hotte?«
Er rührte sich nicht.
»Ich kann dich verstehen. Ich würde es vermutlich auch nicht schaffen. Mit dem Marco.«
Hotte wandte sich in slow motion zu mir um. Starrte mich an, als hätte ich ihn aus dem Tiefschlaf gerissen.
»Aber wo soll er hin?«
»Die Chantal«, sagte Hotte mit belegter Stimme, »die bleibt nicht bei mir, wenn ich den Pico wegschicke. Für die bin ich dann gestorben.«
Ich wusste, er hatte recht. Und ich hatte mich vermutlich noch nie im Leben einer so ausweglosen Situation gegenübergesehen.
Hotte kam an den Tisch und drückte seine Kippe im Aschenbecher aus. Sah mich an.
»Ich lass es mir noch mal durchn Kopf gehen, Katja.«
Er war schon an der Tür, als er sich noch mal umdrehte: »Hörma, sag der Nele nichts. Die soll jetzt erst mal in die Entgiftung, okay?«
Ich brauchte jetzt nicht nur das versprochene Eis und Nachschub für meinen Kühlschrank, sondern auch dringend frische Luft und Bewegung. Also machte ich einen großen Schlenker zur Buchhandlung und holte den Ian Rankin ab. Ließ mir die drei Bände als Geschenk verpacken und kaufte gleich noch ein schmales Lesezeichen mit einer hellen Feder drauf dazu. Dann marschierte ich zum REWE , kaufte eine Packung Vanille- und eine Packung Schoko-Eis und was ich sonst noch brauchte. Da ich null Appetit hatte, fiel der Einkauf ziemlich bescheiden aus, was zumindest meinem Kontostand guttat.
Zu Hause angekommen, nahm ich mir ein Herz und rief endlich Frau Lanzing im Jugendamt an. Ich hatte dieses Gespräch die ganze Zeit vor mir hergeschoben, weil ich schlicht und einfach Angst davor hatte. Ich ging davon aus, dass die Frau nicht mit mir reden wollte. Schließlich war sie als Marcos Sachbearbeiterin mit schuld an dem ganzen Horror. Sie hatte den Jungen an die Grimmes vermittelt, sie hatte nichts gesehen und gehört oder einfach nicht nachgefragt oder gar nachgesehen. Allerdings, überlegte ich, vielleicht weiß sie ja gar nicht, was die Grimme mit dem Jungen gemacht hat. Vielleicht hatte sie nur gehört, dass Marco verschwunden ist? Und wenn das so war, dann musste ich ihr den Horror beibringen. Hilfe!
Jetzt habe ich zwar eine große Klappe, bin aber in Wahrheit ziemlich konfliktscheu. Wenn Leute mir zum Beispiel sagen, sie möchten nicht interviewt werden, und ich das Gefühl habe, sie meinen das wirklich so, dann lasse ich es gut sein. Ich kann und mag niemanden zu etwas drängen, das er oder sie nicht tun möchte. Aber ich musste die Frau unter allen Umstanden dazu bringen, mit mir zu reden. Sie musste mir alles sagen, was sie über Grimme und deren Mann wusste, welchen Kinderarzt Marco hatte, ob sie Tamara an Grimmes vermittelt hatte und, wenn ja, wo das Mädchen jetzt war.
Ich wählte ihre Durchwahlnummer, bekam aber statt Lanzing eine kühle Lady in der Vermittlung dran. Frau Lanzing sei gerade nicht zu sprechen. Ob sie mir weiterhelfen könne? Nein, sagte ich, das sei ein Privatanruf. Ich würde es dann bei Maria, äh, Frau Lanzing – mir war grade noch rechtzeitig eingefallen, dass sie Maria hieß – zu Hause versuchen.
Der Trick funktionierte. »Bleiben Sie mal dran«, meinte die Lady.
»Lanzing.«
»Tag, Frau Lanzing, Katja Leichter hier. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Wenden Sie sich bitte an unsere Pressestelle, Frau Leichter, ich bin nicht auskunftsberechtigt.«
Ich sagte ihr, dass ich kein offizielles Statement von ihr wollte, sondern ein Privatgespräch. Dass ich Marco und Chantal kannte, dass ich mich um die Kinder gekümmert hatte, dass ich mich jetzt weiter mit um Chantal kümmerte und unbedingt herausfinden musste, wo Marco steckte. Dass ich deshalb unbedingt und so bald wie irgend möglich mit ihr reden musste. Und dass sie doch mit dem, was ich in
Weitere Kostenlose Bücher