Endstation Oxford
es herkommt. Es verursacht mir Zähneklappern, und da zu diesem Zeitpunkt außer mir niemand wusste, was geschehen war, konnte niemand geschrien haben. Noch nicht.
Mir ist, als müsste ich meinen Standort verlassen und meine Hände waschen. Dabei trifft mich nicht die geringste Schuld. Warum auch? Aber irgendetwas klebt trotzdem an meinen Fingern: der Geruch von gekochtem Kohl, der klebrige Nikotinfilm des Fensters, der Staub des Vorhangs. Rostrote Vorhänge. Die Farbe verblichener, eingetrockneter Blutflecke. Das Blut aber, das ich an jenem Abend sah, hatte sich als schwarze Lache auf dem Bürgersteig ausgebreitet. Nur unter der Straßenlaterne zeigte sich ein dunkelrotes Glühen.
11
»Und das war’s dann«, endete Kate, nachdem sie Jon abends von ihrem Ausflug nach London berichtet hatte. »Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehen.«
»Und welche Erklärung hast du mit deiner blühenden Fantasie für die Vorgänge gefunden?«
»Ich bin verwirrt. Ich habe keine Ahnung, was da los sein könnte, spüre aber ein deutliches Unbehagen. Und du?«
»So, wie es sich anhört, ist sie am Samstag freiwillig mit diesem unbekannten Mann weggegangen. Warum sie das tat und mit wem sie wohin verschwunden ist, geht uns nichts an. Wenn der besagte Mann allerdings der gleiche war, der Peter heute Morgen angerufen hat, dann ist es sehr merkwürdig, dass sie erneut verschwunden sein soll. Wohin ist sie gegangen, nachdem sie seine Wohnung verlassen hat? Und warum hat sie sich nicht gemeldet?«
»Vielleicht hat sie ihre Pläne geändert und ist zu diesem Mann zurückgekehrt.«
»Warum hätte sie ihn dann zunächst verlassen? Außerdem hat er vier Stunden später bei ihr zu Hause angerufen und wollte sie sprechen. Vielleicht wollte sie allein sein, um nachzudenken. Für mich wäre das die wahrscheinlichste Erklärung. Sollte meine Theorie stimmen, wird sie sicher bald wieder auftauchen und sich an ihre Arbeit machen. Du musst nur abwarten und dich noch ein wenig gedulden.«
»Und die SMS?«
»Du hast nur einen Teil von ihr gesehen, daher können wir uns kein Urteil erlauben. Sie könnte sogar von Estelle selbst gewesen sein.«
»Wieso hat er dann die Nummer nicht erkannt?«
»Sie könnte zum Beispiel ihr Telefon verloren und ein billiges Prepaid-Gerät gekauft haben.«
»Was ist mit den Dingen, die Peter davor gesagt hat? Dass es nicht seine Schuld wäre, sondern die seiner Eltern. Und wenn er sich nichts hat zuschulden kommen lassen, wieso wird dann Lösegeld von ihm gefordert?«
»Vielleicht meinte er das im übertragenen Sinn. Nach dem zu urteilen, was du mir erzählt hast, hat er seit Estelles Verschwinden zu Hause gesessen, zu viel getrunken und über sämtliche Ungerechtigkeiten nachgedacht, die ihm je im Leben widerfahren sind.«
»Bleibt immer noch die Tatsache, dass Estelle verschwunden ist und Peter sich weigert, etwas herauszurücken, was ihm offenbar nicht gehört. Und dass er sich mehr Sorgen um das Zweite als um das Erste zu machen scheint.«
»Kate, mehr kannst du wirklich nicht unternehmen. Hab Geduld. Bestimmt ist Estelle morgen früh schon wieder da. Aber nach einem so aufregenden Tag hast du sicher einen Riesenhunger. Soll ich das Essen auftragen?«
»Sehr gern. Eine Flasche Wein dazu?«
»Ich denke, die haben wir uns verdient.«
Als sie nach dem Essen bei einem Glas Wein im Wohnzimmer zusammensaßen, drehten sich Kates Gedanken erneut um ihre verschwundene Agentin.
»Ich glaube, dass Estelle nach Hause gehen wollte, als sie heute Morgen um halb acht die Wohnung dieses unbekannten Mannes verließ. Unverständlich ist allerdings, was anschließend geschah. Wir reden hier von Estelle, das dürfen wir nicht vergessen. Nach vier Tagen wird sie ein ausgedehntes Bad mit teurem Badeöl genießen, ihre edlen Gesichtscremes benutzen und sich endlich umziehen wollen. Und sicher steht ihr der Sinn nach einem großen Gin Tonic. Wo gibt es das alles? Natürlich bei ihr zu Hause.«
Jon seufzte. »Vielleicht hat sie einen Freund oder eine Freundin getroffen und ist mit ihm oder ihr heimgegangen. Wir können nur spekulieren. Einfacher wäre es, wenn wir wüssten, wo sich diese Wohnung befindet, in der sie war.«
»Sie muss nicht einmal unbedingt in London sein.«
»Du könntest Peter morgen noch einmal anrufen. Falls Estelle dann immer noch nicht zurück ist, fragst du ihn, ob er nach dem Anruf daran gedacht hat, die 1471 für die Rufnummernrückverfolgung anzurufen.«
»Wird gemacht. Es gibt auch noch eine
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