Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
Vom Netzwerk:
der Stimme: »Ich war doch kein Dichter, der sich an einer Verschwörung beteiligt hat. Ich war ein Verschwörer, der Gedichte schrieb!«
    Ein anderer Traum handelte von tschetschenischen Rebellen, die Geiseln genommen hatten, darunter auch Nikita. Merkwürdigerweise hatte er überhaupt keine Angst vor den bärtigen Männern mit den Maschinenpistolen. Er lief zwischen ihnen herum und fragte sie nach Dingen, die nichts mit der Situation zu tun hatten.
    Den jungen Terroristen Mowsar, der nervös rauchend auf dem Fensterbrett saß, fragte Nikita:
    »Hast du irgendwann einmal gespürt, daß Gott dir hilft?«
    »Allah ist immer bei mir!« knurrte Mowsar mißtrauisch und richtete vorsichtshalber die Mündung seiner Kalaschnikow auf Nikita.
    »Schon klar«, erwiderte Nikita, ohne die MPi zu beachten, »aber gab es schon mal Situationen, in denen nichts helfen konnte und nur ein offensichtliches Wunder dich gerettet hat?«
    »Einmal, in meiner Kindheit. Ich war noch ganz klein. Ich war gestolpert und in einen Bach gefallen. Die Strömung erfaßte mich und trug mich direkt auf den Wasserfall zu. Und die Strömung ist dort so stark, daß nicht mal ein erwachsener Mann dagegen ankommt, geschweige denn ein Kind. Der Himmel war blau, die Sonne schien. Ich sträubte mich gegen das Sterben, mit solcher Kraft, daß ich fast kotzen mußte. Da betete ich zu Allah, er soll mich retten, mir noch ein bißchen Zeit geben, die Sonne zu sehen und unter diesem Himmel zu leben. Im selben Augenblick hob eine Welle mich hoch und legte mich sanft auf einen großen Stein am Ufer. Ich hatte nicht einmal eine Schramme. Ja, das war ein Wunder.«
    Auch andere Rebellen vergaßen ihre menschenfresserischen Pflichten, umringten Nikita und konnten es kaum erwarten, ebenfalls zu erzählen. Von ihren Eltern, von der ersten Liebe, von einem Morgen in den Bergen und davon, daß es, wenn man lange in einen Gebirgsfluß schaut, aussieht, als würde das Wasser aufwärts fließen statt abwärts, wie die Natur es will.
    »Wir werden gleich alle sterben, aber du, wenn du überlebst, versprich, daß du uns nicht vergißt, daß du unsere Worte in deinem Gedächtnis bewahrst. So bleiben wir auchnach dem Tod auf dieser Erde«, sagten die Kämpfer Allahs zu Nikita. Und Nikita versprach es.
    Die Rebellen hatten Vertrauen zu Nikita gefaßt und beschlossen, ihn als Unterhändler zu benutzen. Nikita sollte bis zur Mitte eines schattigen, von allen Seiten beschossenen Hofs gehen, wo ein Kamerateam des Fernsehsenders Al Dschasira wartete, und in einer Direktübertragung die Forderungen der Terroristen verkünden.
    Als Nikita an den Geiseln vorbeikam, nahm er wortlos ein kleines Mädchen an die Hand, und es ging mit ihm. Als er aufsah, begegnete er dem Blick von Mowsar. Nikita lächelte und ging weiter. Mowsar sagte nichts.
    Plötzlich tauchte Jasja auf. Sie schaute hinter Mowsars Tarnanzugsrücken hervor, und laut, ohne sich zu verbergen, rief sie Nikita nach:
    »Egal, wie dieser Kampf endet, du hast schon gesiegt!«
    Nikita stand vor der Kamera, verlas ein Papier mit dem Titel »Ultimatum Itschkeriens« und übergab die kleine Hand, die seine Finger umklammerte, unauffällig an die des Kameramannes, der sofort begriff.
    Als er das Ultimatum verlesen hatte, drehte er sich um und ging zurück. Allein.
    »Du Idiot!« sagte Mowsar zu ihm. »Warum bist du zurückgekommen? Wir haben extra dich geschickt, damit du fliehst! Damit du lebst und unsere Geschichten aufbewahrst!«
    Dann gab es Träume, die davon handelten, was in den Nachbarzellen geschah. Vielmehr waren es keine Träume, sondern eine aus der physischen Erschöpfung geborene Fähigkeit, durch die Wände zu schauen. Nikita wußte, daß gegenüber, auf der anderen Seite des Flurs, zwei alte Bekannte saßen. Jasjas verrückter Komsomolze, Tremor, und Aljas Ritter, Aljoscha.
    Tremor als echter Held der Revolution wartete ebenfalls auf seinen Prozeß wegen eines Attentats auf den Präsidenten. Das Attentat selbst wirkte allerdings weniger heldenhaft als lächerlich. Bei einem Besuch in einer ruhigen Stadt an der Wolga besichtigte der hohe Gast ein Denkmal für die Opfer eines weißgardistischen Aufstands, es stand vor dem Haus, in dem der Komsomolze wohnte.
    Tremor, der nach einem einsamen Besäufnis kaum die Augen aufbekam, wurde von seinem verkaterten Gewissen gequält, er trauerte um die vergeudeten Jahre seines Lebensund träumte von einer Heldentat, die eines echten Kommunisten würdig war.
    Und da, wie auf den Wink

Weitere Kostenlose Bücher